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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Kunst der Hellenen.
und Zufälligkeiten abhängig, welche ihre Richtung, ihr Be¬
stehen und Vergehen bestimmen, ohne daß dadurch die Natur
des Volks wesentlich verändert werde. Der Hellenen ganze
Nationalität war aber auf die Kunst angelegt; das Schöne,
als die in die Sinnlichkeit tretende Offenbarung des Guten,
war ihnen ein Lebensbedürfniß, das sie nicht ruhen ließ, an
sich und um sich die Idee der Schönheit darzustellen; darum
war die Kunst ein so wesentlicher Theil ihres Lebens und
Strebens, dessen Verständniß ohne sie unmöglich ist. Sie ist
das verklärte Abbild, das bessere Selbst des Volks. Denn
im geselligen und öffentlichen Leben da zeigen sich die Griechen
-- wer wollte das aus blinder Schwärmerei läugnen? -- so
unzuverlässig, eitel, leichtfertig und neuerungssüchtig; in ihrem
Kunstleben dagegen wie ernst und beharrlich, wie klar und
vernünftig, treu sich selbst und dem überlieferten Gesetze! Daher
der erziehende Einfluß der Kunst, daher ihre Kraft, den Men¬
schen in seinen Neigungen zu läutern und aus den niederen
Sphären der Sinnlichkeit emporzuheben. Das Unsittliche sollte
für die Kunst nicht da sein und ihre Schönheit keine höhere
Bedeutung haben, als die Seelen zum Guten und Göttlichen
hinzuziehen. Darum verschmähte sie täuschenden Sinnenreiz;
sie war enthaltsam und keusch, wie die Natur bestrebt mit den
geringsten Mitteln den Zweck zu verwirklichen, vom inwoh¬
nenden Gesetze ganz erfüllt und darum durch und durch wahr
und echt.

Das sind die Kennzeichen, welche unter allen Völkern der
Erde allein die Hellenen ihrer Kunst aufgeprägt haben.

Wie in Beziehung auf das räumliche Beisammensein der
Völker sich zwei entgegenstehende Ansichten gebildet haben,
deren eine jedes Volk in möglichst abgeschlossener Selbstgenüg¬
samkeit isoliren will, während die andere freiesten Verkehr und
freiesten Austausch verlangt, damit jedes Land seine besonderen
Kräfte auf das Ungezwungenste entfalte -- so giebt es auch
in Beziehung auf die durch Zeiträume geschiedenen Völker der
Geschichte einen ähnlichen Gegensatz der Meinungen. Die Einen
wollen jedes Zeitalter unabhängig von dem anderen; ein jedes

Die Kunſt der Hellenen.
und Zufälligkeiten abhängig, welche ihre Richtung, ihr Be¬
ſtehen und Vergehen beſtimmen, ohne daß dadurch die Natur
des Volks weſentlich verändert werde. Der Hellenen ganze
Nationalität war aber auf die Kunſt angelegt; das Schöne,
als die in die Sinnlichkeit tretende Offenbarung des Guten,
war ihnen ein Lebensbedürfniß, das ſie nicht ruhen ließ, an
ſich und um ſich die Idee der Schönheit darzuſtellen; darum
war die Kunſt ein ſo weſentlicher Theil ihres Lebens und
Strebens, deſſen Verſtändniß ohne ſie unmöglich iſt. Sie iſt
das verklärte Abbild, das beſſere Selbſt des Volks. Denn
im geſelligen und öffentlichen Leben da zeigen ſich die Griechen
— wer wollte das aus blinder Schwärmerei läugnen? — ſo
unzuverläſſig, eitel, leichtfertig und neuerungsſüchtig; in ihrem
Kunſtleben dagegen wie ernſt und beharrlich, wie klar und
vernünftig, treu ſich ſelbſt und dem überlieferten Geſetze! Daher
der erziehende Einfluß der Kunſt, daher ihre Kraft, den Men¬
ſchen in ſeinen Neigungen zu läutern und aus den niederen
Sphären der Sinnlichkeit emporzuheben. Das Unſittliche ſollte
für die Kunſt nicht da ſein und ihre Schönheit keine höhere
Bedeutung haben, als die Seelen zum Guten und Göttlichen
hinzuziehen. Darum verſchmähte ſie täuſchenden Sinnenreiz;
ſie war enthaltſam und keuſch, wie die Natur beſtrebt mit den
geringſten Mitteln den Zweck zu verwirklichen, vom inwoh¬
nenden Geſetze ganz erfüllt und darum durch und durch wahr
und echt.

Das ſind die Kennzeichen, welche unter allen Völkern der
Erde allein die Hellenen ihrer Kunſt aufgeprägt haben.

Wie in Beziehung auf das räumliche Beiſammenſein der
Völker ſich zwei entgegenſtehende Anſichten gebildet haben,
deren eine jedes Volk in möglichſt abgeſchloſſener Selbſtgenüg¬
ſamkeit iſoliren will, während die andere freieſten Verkehr und
freieſten Austauſch verlangt, damit jedes Land ſeine beſonderen
Kräfte auf das Ungezwungenſte entfalte — ſo giebt es auch
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[86/0102] Die Kunſt der Hellenen. und Zufälligkeiten abhängig, welche ihre Richtung, ihr Be¬ ſtehen und Vergehen beſtimmen, ohne daß dadurch die Natur des Volks weſentlich verändert werde. Der Hellenen ganze Nationalität war aber auf die Kunſt angelegt; das Schöne, als die in die Sinnlichkeit tretende Offenbarung des Guten, war ihnen ein Lebensbedürfniß, das ſie nicht ruhen ließ, an ſich und um ſich die Idee der Schönheit darzuſtellen; darum war die Kunſt ein ſo weſentlicher Theil ihres Lebens und Strebens, deſſen Verſtändniß ohne ſie unmöglich iſt. Sie iſt das verklärte Abbild, das beſſere Selbſt des Volks. Denn im geſelligen und öffentlichen Leben da zeigen ſich die Griechen — wer wollte das aus blinder Schwärmerei läugnen? — ſo unzuverläſſig, eitel, leichtfertig und neuerungsſüchtig; in ihrem Kunſtleben dagegen wie ernſt und beharrlich, wie klar und vernünftig, treu ſich ſelbſt und dem überlieferten Geſetze! Daher der erziehende Einfluß der Kunſt, daher ihre Kraft, den Men¬ ſchen in ſeinen Neigungen zu läutern und aus den niederen Sphären der Sinnlichkeit emporzuheben. Das Unſittliche ſollte für die Kunſt nicht da ſein und ihre Schönheit keine höhere Bedeutung haben, als die Seelen zum Guten und Göttlichen hinzuziehen. Darum verſchmähte ſie täuſchenden Sinnenreiz; ſie war enthaltſam und keuſch, wie die Natur beſtrebt mit den geringſten Mitteln den Zweck zu verwirklichen, vom inwoh¬ nenden Geſetze ganz erfüllt und darum durch und durch wahr und echt. Das ſind die Kennzeichen, welche unter allen Völkern der Erde allein die Hellenen ihrer Kunſt aufgeprägt haben. Wie in Beziehung auf das räumliche Beiſammenſein der Völker ſich zwei entgegenſtehende Anſichten gebildet haben, deren eine jedes Volk in möglichſt abgeſchloſſener Selbſtgenüg¬ ſamkeit iſoliren will, während die andere freieſten Verkehr und freieſten Austauſch verlangt, damit jedes Land ſeine beſonderen Kräfte auf das Ungezwungenſte entfalte — ſo giebt es auch in Beziehung auf die durch Zeiträume geſchiedenen Völker der Geſchichte einen ähnlichen Gegenſatz der Meinungen. Die Einen wollen jedes Zeitalter unabhängig von dem anderen; ein jedes

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/102>, abgerufen am 27.11.2024.