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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Unfreiheit der alten Welt.
wo von der kräftigen Berührung der beiden Volksgeschlechter
eine gleichsam elektrische Strömung ausging, welche eine er¬
höhte Lebensthätigkeit hervorrief und für die Anfänge euro¬
päischer Gesittung Epoche machte. In Lycien leuchtet ein gei¬
stiges Leben auf, welches von dem orientalischen grundver¬
schieden ist; das ist die Morgenröthe hellenischer Cultur. Bei
dem lycischen Volke, welches zwischen Fels und Meer seine
hohen Burgen gegründet, seine bürgerlichen Gemeinschaften
weise geordnet, sein ganzes Land mit energischer Kunstthätig¬
keit ausgeschmückt und gegen jeden Feind mit heroischer Frei¬
heitsliebe vertheidigt hat -- da entwickelt sich aus den trüben
und unreinen Elementen sinnlicher Naturdienste ein keuscher
Dienst des Lichtgottes, in welchem Geist und Materie, Gott
und Welt klar aus einander treten, ein sittlicher Gottesdienst,
welcher lautere Hände und reines Gewissen fordert, der Dienst
des Apollon, mit welchem die griechische Mantik ihre natio¬
nale Gestalt erhalten hat.

Hier ist die Verbindung zwischen Schicksalskunde und Re¬
ligion, welche schon im Morgenlande vorhanden war, in der
Weise veredelt, daß sie nicht mehr eine gelegentliche und gleich¬
sam zufällige ist, sondern dem Gotte selbst vom obersten Lenker
der Geschicke das Amt gegeben ist, der Offenbarungsbedürftig¬
keit der Menschheit entgegen zu kommen. Seinem Propheten¬
amte dienen nun die elementaren Kräfte wie die Opferflammen
und die Zeichen am Himmel, die weissagenden Vögel wie die
begeisternden Quellen in den Grotten der Musen und Sibyllen,
welche wie Apollon selbst in Kleinasien zu Hause sind. Sein
Dienst verbindet beide Gestade zu einer gleichartigen helleni¬
schen Welt und der Stammvater des Volkszweigs, der diese
Verbindung vorzugsweise zu Stande gebracht hat, Ion ist es,
welcher in Delphi seines Vaters Heiligthum hütet und als
Augur in Attica Tempel gründet.

Und was ist es nun, was dieser hellenischen Mantik ihren
nationalen Charakter giebt? Vor Allem die Freiheit des
Geistes, welche sich auch da behauptet, wo sich der Mensch
einer höheren Leitung unterordnet, die Anerkennung des Ge¬

Die Unfreiheit der alten Welt.
wo von der kräftigen Berührung der beiden Volksgeſchlechter
eine gleichſam elektriſche Strömung ausging, welche eine er¬
höhte Lebensthätigkeit hervorrief und für die Anfänge euro¬
päiſcher Geſittung Epoche machte. In Lycien leuchtet ein gei¬
ſtiges Leben auf, welches von dem orientaliſchen grundver¬
ſchieden iſt; das iſt die Morgenröthe helleniſcher Cultur. Bei
dem lyciſchen Volke, welches zwiſchen Fels und Meer ſeine
hohen Burgen gegründet, ſeine bürgerlichen Gemeinſchaften
weiſe geordnet, ſein ganzes Land mit energiſcher Kunſtthätig¬
keit ausgeſchmückt und gegen jeden Feind mit heroiſcher Frei¬
heitsliebe vertheidigt hat — da entwickelt ſich aus den trüben
und unreinen Elementen ſinnlicher Naturdienſte ein keuſcher
Dienſt des Lichtgottes, in welchem Geiſt und Materie, Gott
und Welt klar aus einander treten, ein ſittlicher Gottesdienſt,
welcher lautere Hände und reines Gewiſſen fordert, der Dienſt
des Apollon, mit welchem die griechiſche Mantik ihre natio¬
nale Geſtalt erhalten hat.

Hier iſt die Verbindung zwiſchen Schickſalskunde und Re¬
ligion, welche ſchon im Morgenlande vorhanden war, in der
Weiſe veredelt, daß ſie nicht mehr eine gelegentliche und gleich¬
ſam zufällige iſt, ſondern dem Gotte ſelbſt vom oberſten Lenker
der Geſchicke das Amt gegeben iſt, der Offenbarungsbedürftig¬
keit der Menſchheit entgegen zu kommen. Seinem Propheten¬
amte dienen nun die elementaren Kräfte wie die Opferflammen
und die Zeichen am Himmel, die weiſſagenden Vögel wie die
begeiſternden Quellen in den Grotten der Muſen und Sibyllen,
welche wie Apollon ſelbſt in Kleinaſien zu Hauſe ſind. Sein
Dienſt verbindet beide Geſtade zu einer gleichartigen helleni¬
ſchen Welt und der Stammvater des Volkszweigs, der dieſe
Verbindung vorzugsweiſe zu Stande gebracht hat, Ion iſt es,
welcher in Delphi ſeines Vaters Heiligthum hütet und als
Augur in Attica Tempel gründet.

Und was iſt es nun, was dieſer helleniſchen Mantik ihren
nationalen Charakter giebt? Vor Allem die Freiheit des
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[169/0185] Die Unfreiheit der alten Welt. wo von der kräftigen Berührung der beiden Volksgeſchlechter eine gleichſam elektriſche Strömung ausging, welche eine er¬ höhte Lebensthätigkeit hervorrief und für die Anfänge euro¬ päiſcher Geſittung Epoche machte. In Lycien leuchtet ein gei¬ ſtiges Leben auf, welches von dem orientaliſchen grundver¬ ſchieden iſt; das iſt die Morgenröthe helleniſcher Cultur. Bei dem lyciſchen Volke, welches zwiſchen Fels und Meer ſeine hohen Burgen gegründet, ſeine bürgerlichen Gemeinſchaften weiſe geordnet, ſein ganzes Land mit energiſcher Kunſtthätig¬ keit ausgeſchmückt und gegen jeden Feind mit heroiſcher Frei¬ heitsliebe vertheidigt hat — da entwickelt ſich aus den trüben und unreinen Elementen ſinnlicher Naturdienſte ein keuſcher Dienſt des Lichtgottes, in welchem Geiſt und Materie, Gott und Welt klar aus einander treten, ein ſittlicher Gottesdienſt, welcher lautere Hände und reines Gewiſſen fordert, der Dienſt des Apollon, mit welchem die griechiſche Mantik ihre natio¬ nale Geſtalt erhalten hat. Hier iſt die Verbindung zwiſchen Schickſalskunde und Re¬ ligion, welche ſchon im Morgenlande vorhanden war, in der Weiſe veredelt, daß ſie nicht mehr eine gelegentliche und gleich¬ ſam zufällige iſt, ſondern dem Gotte ſelbſt vom oberſten Lenker der Geſchicke das Amt gegeben iſt, der Offenbarungsbedürftig¬ keit der Menſchheit entgegen zu kommen. Seinem Propheten¬ amte dienen nun die elementaren Kräfte wie die Opferflammen und die Zeichen am Himmel, die weiſſagenden Vögel wie die begeiſternden Quellen in den Grotten der Muſen und Sibyllen, welche wie Apollon ſelbſt in Kleinaſien zu Hauſe ſind. Sein Dienſt verbindet beide Geſtade zu einer gleichartigen helleni¬ ſchen Welt und der Stammvater des Volkszweigs, der dieſe Verbindung vorzugsweiſe zu Stande gebracht hat, Ion iſt es, welcher in Delphi ſeines Vaters Heiligthum hütet und als Augur in Attica Tempel gründet. Und was iſt es nun, was dieſer helleniſchen Mantik ihren nationalen Charakter giebt? Vor Allem die Freiheit des Geiſtes, welche ſich auch da behauptet, wo ſich der Menſch einer höheren Leitung unterordnet, die Anerkennung des Ge¬

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/185>, abgerufen am 29.11.2024.