Und dann ist es nicht bloß ein neugieriges Forschen nach verborgenen Dingen, was die Hellenen zum Apollon führte. Heißt es doch vom Propheten Epimenides, daß er nur über geschehene Dinge weissagte. Es handelte sich also im Allge¬ meinen um die richtige Beurtheilung der menschlichen Ange¬ legenheiten, wobei man sich mit der Gottheit im Einklange fühlen wollte. Nicht um die Wechselfälle des Irdischen handelte es sich, sondern um die unwandelbaren Ordnungen des gött¬ lichen Rechtes, welche dem Menschen lebendig in die Seele treten sollten, weil man wußte, daß dann auch im Einzelnen die quälenden Zweifel sich beseitigen würden. Es war nach dem Ausdrucke der Alten "ein Rath pflegen mit den Göttern." Am nächsten war man ihnen beim Opfer, welches die durch die Tagesgeschäfte unterbrochene Lebensgemeinschaft mit den Göttern wieder herstellte. Hier erwartete man also am ehesten eine freundliche Mittheilung. Daher die wachsame Aufmerk¬ samkeit auf alle Opferzeichen, die Altarflamme, die Schlacht¬ thiere, die während der Feier eintretenden Ereignisse -- Alles war bei diesem Zusammenhange bedeutungsvoll. Hier ist also kein Verkehr mit dunkeln, namenlosen Schicksalsmächten, son¬ dern ein Umgang mit persönlichen Wesen, welchen man mit kindlichem Vertrauen naht, fest überzeugt, daß sie mittheilend und leutselig sein werden. Hier ist kein dumpfes Verzichten, keine muthlose Resignation; hier werden die geistigen Kräfte nicht gelähmt und zurückgedrängt, sondern zur höchsten Reg¬ samkeit erweckt. Darum bezeichnet auch "Mantik" dem Wort¬ sinne nach die erregte Denkkraft, und der Gott der Mantik, der nicht in stummen Zeichen, sondern in lebendigen, mensch¬ lichen, kunstvoll gestalteten Worten sich kund giebt, ist zu¬ gleich der Musaget, der Gott der Poesie und Wissenschaft, der Ordner und Pfleger des Staatslebens. Wie an den Strahlen einer kräftigen Frühlingssonne entfaltet sich die ganze Blüthe des nationalen Lebens an den Sitzen der hellenischen Mantik.
Denn darin zeigt sich nun die besondere Ausbildung der Mantik bei den Griechen, daß sie der Willkür, welcher hier
Die Unfreiheit der alten Welt.
Und dann iſt es nicht bloß ein neugieriges Forſchen nach verborgenen Dingen, was die Hellenen zum Apollon führte. Heißt es doch vom Propheten Epimenides, daß er nur über geſchehene Dinge weiſſagte. Es handelte ſich alſo im Allge¬ meinen um die richtige Beurtheilung der menſchlichen Ange¬ legenheiten, wobei man ſich mit der Gottheit im Einklange fühlen wollte. Nicht um die Wechſelfälle des Irdiſchen handelte es ſich, ſondern um die unwandelbaren Ordnungen des gött¬ lichen Rechtes, welche dem Menſchen lebendig in die Seele treten ſollten, weil man wußte, daß dann auch im Einzelnen die quälenden Zweifel ſich beſeitigen würden. Es war nach dem Ausdrucke der Alten »ein Rath pflegen mit den Göttern.« Am nächſten war man ihnen beim Opfer, welches die durch die Tagesgeſchäfte unterbrochene Lebensgemeinſchaft mit den Göttern wieder herſtellte. Hier erwartete man alſo am eheſten eine freundliche Mittheilung. Daher die wachſame Aufmerk¬ ſamkeit auf alle Opferzeichen, die Altarflamme, die Schlacht¬ thiere, die während der Feier eintretenden Ereigniſſe — Alles war bei dieſem Zuſammenhange bedeutungsvoll. Hier iſt alſo kein Verkehr mit dunkeln, namenloſen Schickſalsmächten, ſon¬ dern ein Umgang mit perſönlichen Weſen, welchen man mit kindlichem Vertrauen naht, feſt überzeugt, daß ſie mittheilend und leutſelig ſein werden. Hier iſt kein dumpfes Verzichten, keine muthloſe Reſignation; hier werden die geiſtigen Kräfte nicht gelähmt und zurückgedrängt, ſondern zur höchſten Reg¬ ſamkeit erweckt. Darum bezeichnet auch »Mantik« dem Wort¬ ſinne nach die erregte Denkkraft, und der Gott der Mantik, der nicht in ſtummen Zeichen, ſondern in lebendigen, menſch¬ lichen, kunſtvoll geſtalteten Worten ſich kund giebt, iſt zu¬ gleich der Muſaget, der Gott der Poeſie und Wiſſenſchaft, der Ordner und Pfleger des Staatslebens. Wie an den Strahlen einer kräftigen Frühlingsſonne entfaltet ſich die ganze Blüthe des nationalen Lebens an den Sitzen der helleniſchen Mantik.
Denn darin zeigt ſich nun die beſondere Ausbildung der Mantik bei den Griechen, daß ſie der Willkür, welcher hier
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Die Unfreiheit der alten Welt.
Und dann iſt es nicht bloß ein neugieriges Forſchen nach
verborgenen Dingen, was die Hellenen zum Apollon führte.
Heißt es doch vom Propheten Epimenides, daß er nur über
geſchehene Dinge weiſſagte. Es handelte ſich alſo im Allge¬
meinen um die richtige Beurtheilung der menſchlichen Ange¬
legenheiten, wobei man ſich mit der Gottheit im Einklange
fühlen wollte. Nicht um die Wechſelfälle des Irdiſchen handelte
es ſich, ſondern um die unwandelbaren Ordnungen des gött¬
lichen Rechtes, welche dem Menſchen lebendig in die Seele
treten ſollten, weil man wußte, daß dann auch im Einzelnen
die quälenden Zweifel ſich beſeitigen würden. Es war nach
dem Ausdrucke der Alten »ein Rath pflegen mit den Göttern.«
Am nächſten war man ihnen beim Opfer, welches die durch
die Tagesgeſchäfte unterbrochene Lebensgemeinſchaft mit den
Göttern wieder herſtellte. Hier erwartete man alſo am eheſten
eine freundliche Mittheilung. Daher die wachſame Aufmerk¬
ſamkeit auf alle Opferzeichen, die Altarflamme, die Schlacht¬
thiere, die während der Feier eintretenden Ereigniſſe — Alles
war bei dieſem Zuſammenhange bedeutungsvoll. Hier iſt alſo
kein Verkehr mit dunkeln, namenloſen Schickſalsmächten, ſon¬
dern ein Umgang mit perſönlichen Weſen, welchen man mit
kindlichem Vertrauen naht, feſt überzeugt, daß ſie mittheilend
und leutſelig ſein werden. Hier iſt kein dumpfes Verzichten,
keine muthloſe Reſignation; hier werden die geiſtigen Kräfte
nicht gelähmt und zurückgedrängt, ſondern zur höchſten Reg¬
ſamkeit erweckt. Darum bezeichnet auch »Mantik« dem Wort¬
ſinne nach die erregte Denkkraft, und der Gott der Mantik,
der nicht in ſtummen Zeichen, ſondern in lebendigen, menſch¬
lichen, kunſtvoll geſtalteten Worten ſich kund giebt, iſt zu¬
gleich der Muſaget, der Gott der Poeſie und Wiſſenſchaft,
der Ordner und Pfleger des Staatslebens. Wie an den
Strahlen einer kräftigen Frühlingsſonne entfaltet ſich die ganze
Blüthe des nationalen Lebens an den Sitzen der helleniſchen
Mantik.
Denn darin zeigt ſich nun die beſondere Ausbildung der
Mantik bei den Griechen, daß ſie der Willkür, welcher hier
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/187>, abgerufen am 28.11.2024.
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