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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Unfreiheit der alten Welt.
so nahe Verbindung mit der freien Sittlichkeit des menschlichen
Gemüths und den sittlichen Aufgaben, sondern sie tritt mehr
und mehr in den Dienst der praktischen Politik, sie wird ein
Mittel für die Zwecke des Staats. Demgemäß wird sie wie
alles Staatliche fest geordnet und in gesetzliche Form gebracht,
was bei den Griechen freierer Behandlung und volksthüm¬
lichem Herkommen überlassen blieb. So hatten die Griechen
die Vogelschau wie die Römer; auch ihnen galten die zwischen
Himmel und Erde lebenden Geschöpfe für die natürlichen Ver¬
mittler beider Welten, für die Vertrauten der Götter. Keine
Thiergattung haben sie sorgfältiger und liebevoller beobachtet;
nirgends ist Aristoteles besser unterrichtet. Aber die Römer
brachten die Anschauung ihrer Vorgänger in ein festes System,
in eine Lehrform, die einen Theil ihrer nationalen Wissenschaft
bildete; die freie Inspiration, der von Natur offene Blick für
die Winke der Gottheit trat zurück vor der strengen Beobach¬
tung geschriebener Satzungen. Die göttlichen Mächte wurden
zu einer regelmäßigen Theilnahme am Gemeindeleben heran¬
gezogen, sie gehörten mit zu den unentbehrlichen Elementen
des Verfassungslebens durch alle Zeiten der Geschichte Roms.

Der König des Himmels war auch das unsichtbare Ober¬
haupt des Staats; nach seinen Willenszeichen wurde das
irdische Herrscherthum eingesetzt, von ihnen war die Anerken¬
nung und Weihe aller Könige abhängig. Doch hütete man
sich wohl diesem Staatsgrundsatze unbedingte Geltung zu geben,
wodurch jede freie Entwickelung des öffentlichen Lebens ge¬
hemmt worden wäre, denn eine Theokratie ohne Offenbarung
des göttlichen Gesetzes muß zu einer drückenden und willkür¬
lichen Hierarchie werden. Darum erfolgten die Himmelsbeob¬
achtungen durch die von der Gemeinde berufenen Träger der
Staatsgewalt; die Macht wurde ihnen von der Gemeinde ge¬
geben und nur als Ergänzung der so übertragenen Amtsvoll¬
macht die göttliche Anerkennung eingeholt. Besondere Genossen¬
schaften sorgten für die Aufbewahrung und Vervollständigung
der Wissenschaft von den göttlichen Zeichen, aber man ließ
den unmittelbaren Verkehr des Staats mit seinen Göttern

Die Unfreiheit der alten Welt.
ſo nahe Verbindung mit der freien Sittlichkeit des menſchlichen
Gemüths und den ſittlichen Aufgaben, ſondern ſie tritt mehr
und mehr in den Dienſt der praktiſchen Politik, ſie wird ein
Mittel für die Zwecke des Staats. Demgemäß wird ſie wie
alles Staatliche feſt geordnet und in geſetzliche Form gebracht,
was bei den Griechen freierer Behandlung und volksthüm¬
lichem Herkommen überlaſſen blieb. So hatten die Griechen
die Vogelſchau wie die Römer; auch ihnen galten die zwiſchen
Himmel und Erde lebenden Geſchöpfe für die natürlichen Ver¬
mittler beider Welten, für die Vertrauten der Götter. Keine
Thiergattung haben ſie ſorgfältiger und liebevoller beobachtet;
nirgends iſt Ariſtoteles beſſer unterrichtet. Aber die Römer
brachten die Anſchauung ihrer Vorgänger in ein feſtes Syſtem,
in eine Lehrform, die einen Theil ihrer nationalen Wiſſenſchaft
bildete; die freie Inſpiration, der von Natur offene Blick für
die Winke der Gottheit trat zurück vor der ſtrengen Beobach¬
tung geſchriebener Satzungen. Die göttlichen Mächte wurden
zu einer regelmäßigen Theilnahme am Gemeindeleben heran¬
gezogen, ſie gehörten mit zu den unentbehrlichen Elementen
des Verfaſſungslebens durch alle Zeiten der Geſchichte Roms.

Der König des Himmels war auch das unſichtbare Ober¬
haupt des Staats; nach ſeinen Willenszeichen wurde das
irdiſche Herrſcherthum eingeſetzt, von ihnen war die Anerken¬
nung und Weihe aller Könige abhängig. Doch hütete man
ſich wohl dieſem Staatsgrundſatze unbedingte Geltung zu geben,
wodurch jede freie Entwickelung des öffentlichen Lebens ge¬
hemmt worden wäre, denn eine Theokratie ohne Offenbarung
des göttlichen Geſetzes muß zu einer drückenden und willkür¬
lichen Hierarchie werden. Darum erfolgten die Himmelsbeob¬
achtungen durch die von der Gemeinde berufenen Träger der
Staatsgewalt; die Macht wurde ihnen von der Gemeinde ge¬
geben und nur als Ergänzung der ſo übertragenen Amtsvoll¬
macht die göttliche Anerkennung eingeholt. Beſondere Genoſſen¬
ſchaften ſorgten für die Aufbewahrung und Vervollſtändigung
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[176/0192] Die Unfreiheit der alten Welt. ſo nahe Verbindung mit der freien Sittlichkeit des menſchlichen Gemüths und den ſittlichen Aufgaben, ſondern ſie tritt mehr und mehr in den Dienſt der praktiſchen Politik, ſie wird ein Mittel für die Zwecke des Staats. Demgemäß wird ſie wie alles Staatliche feſt geordnet und in geſetzliche Form gebracht, was bei den Griechen freierer Behandlung und volksthüm¬ lichem Herkommen überlaſſen blieb. So hatten die Griechen die Vogelſchau wie die Römer; auch ihnen galten die zwiſchen Himmel und Erde lebenden Geſchöpfe für die natürlichen Ver¬ mittler beider Welten, für die Vertrauten der Götter. Keine Thiergattung haben ſie ſorgfältiger und liebevoller beobachtet; nirgends iſt Ariſtoteles beſſer unterrichtet. Aber die Römer brachten die Anſchauung ihrer Vorgänger in ein feſtes Syſtem, in eine Lehrform, die einen Theil ihrer nationalen Wiſſenſchaft bildete; die freie Inſpiration, der von Natur offene Blick für die Winke der Gottheit trat zurück vor der ſtrengen Beobach¬ tung geſchriebener Satzungen. Die göttlichen Mächte wurden zu einer regelmäßigen Theilnahme am Gemeindeleben heran¬ gezogen, ſie gehörten mit zu den unentbehrlichen Elementen des Verfaſſungslebens durch alle Zeiten der Geſchichte Roms. Der König des Himmels war auch das unſichtbare Ober¬ haupt des Staats; nach ſeinen Willenszeichen wurde das irdiſche Herrſcherthum eingeſetzt, von ihnen war die Anerken¬ nung und Weihe aller Könige abhängig. Doch hütete man ſich wohl dieſem Staatsgrundſatze unbedingte Geltung zu geben, wodurch jede freie Entwickelung des öffentlichen Lebens ge¬ hemmt worden wäre, denn eine Theokratie ohne Offenbarung des göttlichen Geſetzes muß zu einer drückenden und willkür¬ lichen Hierarchie werden. Darum erfolgten die Himmelsbeob¬ achtungen durch die von der Gemeinde berufenen Träger der Staatsgewalt; die Macht wurde ihnen von der Gemeinde ge¬ geben und nur als Ergänzung der ſo übertragenen Amtsvoll¬ macht die göttliche Anerkennung eingeholt. Beſondere Genoſſen¬ ſchaften ſorgten für die Aufbewahrung und Vervollſtändigung der Wiſſenſchaft von den göttlichen Zeichen, aber man ließ den unmittelbaren Verkehr des Staats mit ſeinen Göttern

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/192>, abgerufen am 28.11.2024.