Die Klage über die zunehmende Entfremdung unter den Wissenschaften bezeugt, wie tief in uns das Bedürfniß wohnt, sie als ein Ganzes anzusehen. Wir können dies Gefühl ein philosophisches Bedürfniß nennen; es ist ein Streben nach all¬ gemeinen Wahrheiten, das nicht bloß in einzelnen, unstäten Erscheinungen auftritt und nicht bloß als ein besonderes Fach neben den anderen sich geltend macht, sondern wie ein Grund¬ ton alle tiefere Forschung begleitet; ein Streben, das sich nicht zufrieden giebt bei dem Erfolge einzelner Facharbeiten und bei der Lösung bestimmter Probleme, sondern aus den ent¬ legensten Gebieten der Forschung die Gedanken immer wieder heimführt zu dem gemeinsamen Ursprunge alles Denkens und Forschens, wo die höchsten Fragen des menschlichen Geistes auch die nächsten sind.
Wollen wir dies Gefühl schelten oder als eine Schwäche verurtheilen? Gewiß nicht; denn wenn unserm Volke ein besonderer wissenschaftlicher Beruf zu Theil geworden ist, so liegt er am deutlichsten in dieser geistigen Ungenügsamkeit bezeugt, in diesem Durste nach Erkenntniß, welcher im Ein¬ zelnen keine Befriedigung findet. Denn wie aus enger Stuben¬ luft der gesunde Mensch sich hinaussehnt in die freie Atmosphäre, wo er tiefer und voller Athem holen kann, so hat auch der Geist ein gerechtes Bedürfniß, aus dem umgränzten Fache, in das er sich mit aller Kraft vertieft hat, zur Erkenntniß des großen Zusammenhangs der Dinge vorzudringen. Darin liegt die Bewahrung vor einem handwerksmäßigen Betriebe der Wissenschaft, darin zugleich das nationale Gepräge und die Weihe deutscher Wissenschaft.
Wenn also dies allgemeine wissenschaftliche Streben ein philosophisches ist, so könnten wir wohl das alle Universitäts¬ studien Verbindende, nach dem wir suchen, mit keinem treffen¬ deren Namen bezeichnen, als mit dem der Philosophie, und wer würde sich sträuben, seine besondere Wissenschaft der Weisheitsliebe unterzuordnen, welche wir als Anfang und Ende, als Keim und Blüthe aller menschlichen Forschung an¬ sehen müssen?
Das Mittleramt der Philologie.
Die Klage über die zunehmende Entfremdung unter den Wiſſenſchaften bezeugt, wie tief in uns das Bedürfniß wohnt, ſie als ein Ganzes anzuſehen. Wir können dies Gefühl ein philoſophiſches Bedürfniß nennen; es iſt ein Streben nach all¬ gemeinen Wahrheiten, das nicht bloß in einzelnen, unſtäten Erſcheinungen auftritt und nicht bloß als ein beſonderes Fach neben den anderen ſich geltend macht, ſondern wie ein Grund¬ ton alle tiefere Forſchung begleitet; ein Streben, das ſich nicht zufrieden giebt bei dem Erfolge einzelner Facharbeiten und bei der Löſung beſtimmter Probleme, ſondern aus den ent¬ legenſten Gebieten der Forſchung die Gedanken immer wieder heimführt zu dem gemeinſamen Urſprunge alles Denkens und Forſchens, wo die höchſten Fragen des menſchlichen Geiſtes auch die nächſten ſind.
Wollen wir dies Gefühl ſchelten oder als eine Schwäche verurtheilen? Gewiß nicht; denn wenn unſerm Volke ein beſonderer wiſſenſchaftlicher Beruf zu Theil geworden iſt, ſo liegt er am deutlichſten in dieſer geiſtigen Ungenügſamkeit bezeugt, in dieſem Durſte nach Erkenntniß, welcher im Ein¬ zelnen keine Befriedigung findet. Denn wie aus enger Stuben¬ luft der geſunde Menſch ſich hinausſehnt in die freie Atmoſphäre, wo er tiefer und voller Athem holen kann, ſo hat auch der Geiſt ein gerechtes Bedürfniß, aus dem umgränzten Fache, in das er ſich mit aller Kraft vertieft hat, zur Erkenntniß des großen Zuſammenhangs der Dinge vorzudringen. Darin liegt die Bewahrung vor einem handwerksmäßigen Betriebe der Wiſſenſchaft, darin zugleich das nationale Gepräge und die Weihe deutſcher Wiſſenſchaft.
Wenn alſo dies allgemeine wiſſenſchaftliche Streben ein philoſophiſches iſt, ſo könnten wir wohl das alle Univerſitäts¬ ſtudien Verbindende, nach dem wir ſuchen, mit keinem treffen¬ deren Namen bezeichnen, als mit dem der Philoſophie, und wer würde ſich ſträuben, ſeine beſondere Wiſſenſchaft der Weisheitsliebe unterzuordnen, welche wir als Anfang und Ende, als Keim und Blüthe aller menſchlichen Forſchung an¬ ſehen müſſen?
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Das Mittleramt der Philologie.
Die Klage über die zunehmende Entfremdung unter den
Wiſſenſchaften bezeugt, wie tief in uns das Bedürfniß wohnt,
ſie als ein Ganzes anzuſehen. Wir können dies Gefühl ein
philoſophiſches Bedürfniß nennen; es iſt ein Streben nach all¬
gemeinen Wahrheiten, das nicht bloß in einzelnen, unſtäten
Erſcheinungen auftritt und nicht bloß als ein beſonderes Fach
neben den anderen ſich geltend macht, ſondern wie ein Grund¬
ton alle tiefere Forſchung begleitet; ein Streben, das ſich nicht
zufrieden giebt bei dem Erfolge einzelner Facharbeiten und
bei der Löſung beſtimmter Probleme, ſondern aus den ent¬
legenſten Gebieten der Forſchung die Gedanken immer wieder
heimführt zu dem gemeinſamen Urſprunge alles Denkens und
Forſchens, wo die höchſten Fragen des menſchlichen Geiſtes
auch die nächſten ſind.
Wollen wir dies Gefühl ſchelten oder als eine Schwäche
verurtheilen? Gewiß nicht; denn wenn unſerm Volke ein
beſonderer wiſſenſchaftlicher Beruf zu Theil geworden iſt, ſo
liegt er am deutlichſten in dieſer geiſtigen Ungenügſamkeit
bezeugt, in dieſem Durſte nach Erkenntniß, welcher im Ein¬
zelnen keine Befriedigung findet. Denn wie aus enger Stuben¬
luft der geſunde Menſch ſich hinausſehnt in die freie Atmoſphäre,
wo er tiefer und voller Athem holen kann, ſo hat auch der
Geiſt ein gerechtes Bedürfniß, aus dem umgränzten Fache, in
das er ſich mit aller Kraft vertieft hat, zur Erkenntniß des
großen Zuſammenhangs der Dinge vorzudringen. Darin liegt
die Bewahrung vor einem handwerksmäßigen Betriebe der
Wiſſenſchaft, darin zugleich das nationale Gepräge und die
Weihe deutſcher Wiſſenſchaft.
Wenn alſo dies allgemeine wiſſenſchaftliche Streben ein
philoſophiſches iſt, ſo könnten wir wohl das alle Univerſitäts¬
ſtudien Verbindende, nach dem wir ſuchen, mit keinem treffen¬
deren Namen bezeichnen, als mit dem der Philoſophie, und
wer würde ſich ſträuben, ſeine beſondere Wiſſenſchaft der
Weisheitsliebe unterzuordnen, welche wir als Anfang und
Ende, als Keim und Blüthe aller menſchlichen Forſchung an¬
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/20>, abgerufen am 23.11.2024.
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