Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Das Mittleramt der Philologie. fördernder Theilnahme zur Seite geht, einseitigen Richtungenund Abwegen vorbeugend, überall vom Einzelnen den freien Blick zur Erkenntniß des Allgemeinen hinwendend. So schließt sich die Philosophie, welche das wissenschaftliche Bewußtsein jeder Zeit zu klarem Selbstbewußtsein zu führen berufen ist, derjenigen Richtung an, die wir mit gutem Rechte als die Hauptrichtung der heutigen Wissenschaft bezeichnen dürfen, ich meine die geschichtliche; ein Ausdruck, welchen wir um so mehr berechtigt sind, auf die beiden großen Hälften des menschlichen Wissens auszudehnen, als unsere Sprache selbst das Wort Geschichte auf das Gebiet der Naturwissenschaften überträgt. Die Theologie kennt keine höhere Aufgabe, als die Ge¬ Wenn nun eine Wissenschaft vor allen anderen Geschichte Das Mittleramt der Philologie. fördernder Theilnahme zur Seite geht, einſeitigen Richtungenund Abwegen vorbeugend, überall vom Einzelnen den freien Blick zur Erkenntniß des Allgemeinen hinwendend. So ſchließt ſich die Philoſophie, welche das wiſſenſchaftliche Bewußtſein jeder Zeit zu klarem Selbſtbewußtſein zu führen berufen iſt, derjenigen Richtung an, die wir mit gutem Rechte als die Hauptrichtung der heutigen Wiſſenſchaft bezeichnen dürfen, ich meine die geſchichtliche; ein Ausdruck, welchen wir um ſo mehr berechtigt ſind, auf die beiden großen Hälften des menſchlichen Wiſſens auszudehnen, als unſere Sprache ſelbſt das Wort Geſchichte auf das Gebiet der Naturwiſſenſchaften überträgt. Die Theologie kennt keine höhere Aufgabe, als die Ge¬ Wenn nun eine Wiſſenſchaft vor allen anderen Geſchichte <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0022" n="6"/><fw place="top" type="header">Das Mittleramt der Philologie.<lb/></fw>fördernder Theilnahme zur Seite geht, einſeitigen Richtungen<lb/> und Abwegen vorbeugend, überall vom Einzelnen den freien<lb/> Blick zur Erkenntniß des Allgemeinen hinwendend. So ſchließt<lb/> ſich die Philoſophie, welche das wiſſenſchaftliche Bewußtſein<lb/> jeder Zeit zu klarem Selbſtbewußtſein zu führen berufen iſt,<lb/> derjenigen Richtung an, die wir mit gutem Rechte als die<lb/> Hauptrichtung der heutigen Wiſſenſchaft bezeichnen dürfen, ich<lb/> meine die geſchichtliche; ein Ausdruck, welchen wir um ſo mehr<lb/> berechtigt ſind, auf die beiden großen Hälften des menſchlichen<lb/> Wiſſens auszudehnen, als unſere Sprache ſelbſt das Wort<lb/> Geſchichte auf das Gebiet der Naturwiſſenſchaften überträgt.</p><lb/> <p>Die Theologie kennt keine höhere Aufgabe, als die Ge¬<lb/> ſchichte des Reiches Gottes zu begreifen; die Rechtswiſſenſchaft<lb/> kennt kein Recht als das geſchichtlich gewordene; die Medicin<lb/> hat, ſo weit ſie theoretiſche Wiſſenſchaft iſt, kein anderes Ziel,<lb/> als das mit den Naturwiſſenſchaften gemeinſame, in die Ge¬<lb/> ſchichte der Schöpfung einzudringen. Kurz, ſo viel Gruppen<lb/> von Thatſachen es giebt, welche einen geſchloſſenen Kreis bil¬<lb/> den und eine beſondere Forſchung in Anſpruch nehmen, ſo<lb/> vielfach gliedert ſich die große Wiſſenſchaft und mögen nun<lb/> dieſe Thatſachen in der Entwickelung des menſchlichen Geiſtes<lb/> vorliegen oder in der Bewegung der Geſtirne, in Raum- und<lb/> Zahlverhältniſſen, in dem beſeelten Organismus, in den irdi¬<lb/> ſchen Stoffen oder in den unſichtbar wirkenden Kräften der<lb/> Natur, <hi rendition="#g">ein</hi> Streben geht durch alle Forſchung hindurch, in<lb/> dem Gegebenen den Grund des Seins, in den Bewegungen<lb/> den Trieb, in den Erſcheinungen die Urſache, in dem Zufälli¬<lb/> gen den einwohnenden Zweck und in dem Vereinzelten den<lb/> Zuſammenhang zu erkennen. In dieſem Sinne geht alles<lb/> wiſſenſchaftliche Forſchen in Menſchen- und Naturgeſchichte auf.</p><lb/> <p>Wenn nun eine Wiſſenſchaft vor allen anderen Geſchichte<lb/> heißt, ſo hat dies darin ſeinen Grund, daß uns hier die Ge¬<lb/> ſchichte werdend entgegentritt, daß wir Menſchen ſelbſt mit<lb/> allem, was wir ſind, in dieſem Werden mitten inne ſtehen,<lb/> und wie der Menſch dem Menſchen näher iſt als Thier und<lb/> Pflanze, von denen er ſich nährt, als die Luft, in der er<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [6/0022]
Das Mittleramt der Philologie.
fördernder Theilnahme zur Seite geht, einſeitigen Richtungen
und Abwegen vorbeugend, überall vom Einzelnen den freien
Blick zur Erkenntniß des Allgemeinen hinwendend. So ſchließt
ſich die Philoſophie, welche das wiſſenſchaftliche Bewußtſein
jeder Zeit zu klarem Selbſtbewußtſein zu führen berufen iſt,
derjenigen Richtung an, die wir mit gutem Rechte als die
Hauptrichtung der heutigen Wiſſenſchaft bezeichnen dürfen, ich
meine die geſchichtliche; ein Ausdruck, welchen wir um ſo mehr
berechtigt ſind, auf die beiden großen Hälften des menſchlichen
Wiſſens auszudehnen, als unſere Sprache ſelbſt das Wort
Geſchichte auf das Gebiet der Naturwiſſenſchaften überträgt.
Die Theologie kennt keine höhere Aufgabe, als die Ge¬
ſchichte des Reiches Gottes zu begreifen; die Rechtswiſſenſchaft
kennt kein Recht als das geſchichtlich gewordene; die Medicin
hat, ſo weit ſie theoretiſche Wiſſenſchaft iſt, kein anderes Ziel,
als das mit den Naturwiſſenſchaften gemeinſame, in die Ge¬
ſchichte der Schöpfung einzudringen. Kurz, ſo viel Gruppen
von Thatſachen es giebt, welche einen geſchloſſenen Kreis bil¬
den und eine beſondere Forſchung in Anſpruch nehmen, ſo
vielfach gliedert ſich die große Wiſſenſchaft und mögen nun
dieſe Thatſachen in der Entwickelung des menſchlichen Geiſtes
vorliegen oder in der Bewegung der Geſtirne, in Raum- und
Zahlverhältniſſen, in dem beſeelten Organismus, in den irdi¬
ſchen Stoffen oder in den unſichtbar wirkenden Kräften der
Natur, ein Streben geht durch alle Forſchung hindurch, in
dem Gegebenen den Grund des Seins, in den Bewegungen
den Trieb, in den Erſcheinungen die Urſache, in dem Zufälli¬
gen den einwohnenden Zweck und in dem Vereinzelten den
Zuſammenhang zu erkennen. In dieſem Sinne geht alles
wiſſenſchaftliche Forſchen in Menſchen- und Naturgeſchichte auf.
Wenn nun eine Wiſſenſchaft vor allen anderen Geſchichte
heißt, ſo hat dies darin ſeinen Grund, daß uns hier die Ge¬
ſchichte werdend entgegentritt, daß wir Menſchen ſelbſt mit
allem, was wir ſind, in dieſem Werden mitten inne ſtehen,
und wie der Menſch dem Menſchen näher iſt als Thier und
Pflanze, von denen er ſich nährt, als die Luft, in der er
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