Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Mittleramt der Philologie.
fördernder Theilnahme zur Seite geht, einseitigen Richtungen
und Abwegen vorbeugend, überall vom Einzelnen den freien
Blick zur Erkenntniß des Allgemeinen hinwendend. So schließt
sich die Philosophie, welche das wissenschaftliche Bewußtsein
jeder Zeit zu klarem Selbstbewußtsein zu führen berufen ist,
derjenigen Richtung an, die wir mit gutem Rechte als die
Hauptrichtung der heutigen Wissenschaft bezeichnen dürfen, ich
meine die geschichtliche; ein Ausdruck, welchen wir um so mehr
berechtigt sind, auf die beiden großen Hälften des menschlichen
Wissens auszudehnen, als unsere Sprache selbst das Wort
Geschichte auf das Gebiet der Naturwissenschaften überträgt.

Die Theologie kennt keine höhere Aufgabe, als die Ge¬
schichte des Reiches Gottes zu begreifen; die Rechtswissenschaft
kennt kein Recht als das geschichtlich gewordene; die Medicin
hat, so weit sie theoretische Wissenschaft ist, kein anderes Ziel,
als das mit den Naturwissenschaften gemeinsame, in die Ge¬
schichte der Schöpfung einzudringen. Kurz, so viel Gruppen
von Thatsachen es giebt, welche einen geschlossenen Kreis bil¬
den und eine besondere Forschung in Anspruch nehmen, so
vielfach gliedert sich die große Wissenschaft und mögen nun
diese Thatsachen in der Entwickelung des menschlichen Geistes
vorliegen oder in der Bewegung der Gestirne, in Raum- und
Zahlverhältnissen, in dem beseelten Organismus, in den irdi¬
schen Stoffen oder in den unsichtbar wirkenden Kräften der
Natur, ein Streben geht durch alle Forschung hindurch, in
dem Gegebenen den Grund des Seins, in den Bewegungen
den Trieb, in den Erscheinungen die Ursache, in dem Zufälli¬
gen den einwohnenden Zweck und in dem Vereinzelten den
Zusammenhang zu erkennen. In diesem Sinne geht alles
wissenschaftliche Forschen in Menschen- und Naturgeschichte auf.

Wenn nun eine Wissenschaft vor allen anderen Geschichte
heißt, so hat dies darin seinen Grund, daß uns hier die Ge¬
schichte werdend entgegentritt, daß wir Menschen selbst mit
allem, was wir sind, in diesem Werden mitten inne stehen,
und wie der Mensch dem Menschen näher ist als Thier und
Pflanze, von denen er sich nährt, als die Luft, in der er

Das Mittleramt der Philologie.
fördernder Theilnahme zur Seite geht, einſeitigen Richtungen
und Abwegen vorbeugend, überall vom Einzelnen den freien
Blick zur Erkenntniß des Allgemeinen hinwendend. So ſchließt
ſich die Philoſophie, welche das wiſſenſchaftliche Bewußtſein
jeder Zeit zu klarem Selbſtbewußtſein zu führen berufen iſt,
derjenigen Richtung an, die wir mit gutem Rechte als die
Hauptrichtung der heutigen Wiſſenſchaft bezeichnen dürfen, ich
meine die geſchichtliche; ein Ausdruck, welchen wir um ſo mehr
berechtigt ſind, auf die beiden großen Hälften des menſchlichen
Wiſſens auszudehnen, als unſere Sprache ſelbſt das Wort
Geſchichte auf das Gebiet der Naturwiſſenſchaften überträgt.

Die Theologie kennt keine höhere Aufgabe, als die Ge¬
ſchichte des Reiches Gottes zu begreifen; die Rechtswiſſenſchaft
kennt kein Recht als das geſchichtlich gewordene; die Medicin
hat, ſo weit ſie theoretiſche Wiſſenſchaft iſt, kein anderes Ziel,
als das mit den Naturwiſſenſchaften gemeinſame, in die Ge¬
ſchichte der Schöpfung einzudringen. Kurz, ſo viel Gruppen
von Thatſachen es giebt, welche einen geſchloſſenen Kreis bil¬
den und eine beſondere Forſchung in Anſpruch nehmen, ſo
vielfach gliedert ſich die große Wiſſenſchaft und mögen nun
dieſe Thatſachen in der Entwickelung des menſchlichen Geiſtes
vorliegen oder in der Bewegung der Geſtirne, in Raum- und
Zahlverhältniſſen, in dem beſeelten Organismus, in den irdi¬
ſchen Stoffen oder in den unſichtbar wirkenden Kräften der
Natur, ein Streben geht durch alle Forſchung hindurch, in
dem Gegebenen den Grund des Seins, in den Bewegungen
den Trieb, in den Erſcheinungen die Urſache, in dem Zufälli¬
gen den einwohnenden Zweck und in dem Vereinzelten den
Zuſammenhang zu erkennen. In dieſem Sinne geht alles
wiſſenſchaftliche Forſchen in Menſchen- und Naturgeſchichte auf.

Wenn nun eine Wiſſenſchaft vor allen anderen Geſchichte
heißt, ſo hat dies darin ſeinen Grund, daß uns hier die Ge¬
ſchichte werdend entgegentritt, daß wir Menſchen ſelbſt mit
allem, was wir ſind, in dieſem Werden mitten inne ſtehen,
und wie der Menſch dem Menſchen näher iſt als Thier und
Pflanze, von denen er ſich nährt, als die Luft, in der er

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0022" n="6"/><fw place="top" type="header">Das Mittleramt der Philologie.<lb/></fw>fördernder Theilnahme zur Seite geht, ein&#x017F;eitigen Richtungen<lb/>
und Abwegen vorbeugend, überall vom Einzelnen den freien<lb/>
Blick zur Erkenntniß des Allgemeinen hinwendend. So &#x017F;chließt<lb/>
&#x017F;ich die Philo&#x017F;ophie, welche das wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Bewußt&#x017F;ein<lb/>
jeder Zeit zu klarem Selb&#x017F;tbewußt&#x017F;ein zu führen berufen i&#x017F;t,<lb/>
derjenigen Richtung an, die wir mit gutem Rechte als die<lb/>
Hauptrichtung der heutigen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft bezeichnen dürfen, ich<lb/>
meine die ge&#x017F;chichtliche; ein Ausdruck, welchen wir um &#x017F;o mehr<lb/>
berechtigt &#x017F;ind, auf die beiden großen Hälften des men&#x017F;chlichen<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;ens auszudehnen, als un&#x017F;ere Sprache &#x017F;elb&#x017F;t das Wort<lb/>
Ge&#x017F;chichte auf das Gebiet der Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften überträgt.</p><lb/>
        <p>Die Theologie kennt keine höhere Aufgabe, als die Ge¬<lb/>
&#x017F;chichte des Reiches Gottes zu begreifen; die Rechtswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft<lb/>
kennt kein Recht als das ge&#x017F;chichtlich gewordene; die Medicin<lb/>
hat, &#x017F;o weit &#x017F;ie theoreti&#x017F;che Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft i&#x017F;t, kein anderes Ziel,<lb/>
als das mit den Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften gemein&#x017F;ame, in die Ge¬<lb/>
&#x017F;chichte der Schöpfung einzudringen. Kurz, &#x017F;o viel Gruppen<lb/>
von That&#x017F;achen es giebt, welche einen ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Kreis bil¬<lb/>
den und eine be&#x017F;ondere For&#x017F;chung in An&#x017F;pruch nehmen, &#x017F;o<lb/>
vielfach gliedert &#x017F;ich die große Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft und mögen nun<lb/>
die&#x017F;e That&#x017F;achen in der Entwickelung des men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;tes<lb/>
vorliegen oder in der Bewegung der Ge&#x017F;tirne, in Raum- und<lb/>
Zahlverhältni&#x017F;&#x017F;en, in dem be&#x017F;eelten Organismus, in den irdi¬<lb/>
&#x017F;chen Stoffen oder in den un&#x017F;ichtbar wirkenden Kräften der<lb/>
Natur, <hi rendition="#g">ein</hi> Streben geht durch alle For&#x017F;chung hindurch, in<lb/>
dem Gegebenen den Grund des Seins, in den Bewegungen<lb/>
den Trieb, in den Er&#x017F;cheinungen die Ur&#x017F;ache, in dem Zufälli¬<lb/>
gen den einwohnenden Zweck und in dem Vereinzelten den<lb/>
Zu&#x017F;ammenhang zu erkennen. In die&#x017F;em Sinne geht alles<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche For&#x017F;chen in Men&#x017F;chen- und Naturge&#x017F;chichte auf.</p><lb/>
        <p>Wenn nun eine Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft vor allen anderen Ge&#x017F;chichte<lb/>
heißt, &#x017F;o hat dies darin &#x017F;einen Grund, daß uns hier die Ge¬<lb/>
&#x017F;chichte werdend entgegentritt, daß wir Men&#x017F;chen &#x017F;elb&#x017F;t mit<lb/>
allem, was wir &#x017F;ind, in die&#x017F;em Werden mitten inne &#x017F;tehen,<lb/>
und wie der Men&#x017F;ch dem Men&#x017F;chen näher i&#x017F;t als Thier und<lb/>
Pflanze, von denen er &#x017F;ich nährt, als die Luft, in der er<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0022] Das Mittleramt der Philologie. fördernder Theilnahme zur Seite geht, einſeitigen Richtungen und Abwegen vorbeugend, überall vom Einzelnen den freien Blick zur Erkenntniß des Allgemeinen hinwendend. So ſchließt ſich die Philoſophie, welche das wiſſenſchaftliche Bewußtſein jeder Zeit zu klarem Selbſtbewußtſein zu führen berufen iſt, derjenigen Richtung an, die wir mit gutem Rechte als die Hauptrichtung der heutigen Wiſſenſchaft bezeichnen dürfen, ich meine die geſchichtliche; ein Ausdruck, welchen wir um ſo mehr berechtigt ſind, auf die beiden großen Hälften des menſchlichen Wiſſens auszudehnen, als unſere Sprache ſelbſt das Wort Geſchichte auf das Gebiet der Naturwiſſenſchaften überträgt. Die Theologie kennt keine höhere Aufgabe, als die Ge¬ ſchichte des Reiches Gottes zu begreifen; die Rechtswiſſenſchaft kennt kein Recht als das geſchichtlich gewordene; die Medicin hat, ſo weit ſie theoretiſche Wiſſenſchaft iſt, kein anderes Ziel, als das mit den Naturwiſſenſchaften gemeinſame, in die Ge¬ ſchichte der Schöpfung einzudringen. Kurz, ſo viel Gruppen von Thatſachen es giebt, welche einen geſchloſſenen Kreis bil¬ den und eine beſondere Forſchung in Anſpruch nehmen, ſo vielfach gliedert ſich die große Wiſſenſchaft und mögen nun dieſe Thatſachen in der Entwickelung des menſchlichen Geiſtes vorliegen oder in der Bewegung der Geſtirne, in Raum- und Zahlverhältniſſen, in dem beſeelten Organismus, in den irdi¬ ſchen Stoffen oder in den unſichtbar wirkenden Kräften der Natur, ein Streben geht durch alle Forſchung hindurch, in dem Gegebenen den Grund des Seins, in den Bewegungen den Trieb, in den Erſcheinungen die Urſache, in dem Zufälli¬ gen den einwohnenden Zweck und in dem Vereinzelten den Zuſammenhang zu erkennen. In dieſem Sinne geht alles wiſſenſchaftliche Forſchen in Menſchen- und Naturgeſchichte auf. Wenn nun eine Wiſſenſchaft vor allen anderen Geſchichte heißt, ſo hat dies darin ſeinen Grund, daß uns hier die Ge¬ ſchichte werdend entgegentritt, daß wir Menſchen ſelbſt mit allem, was wir ſind, in dieſem Werden mitten inne ſtehen, und wie der Menſch dem Menſchen näher iſt als Thier und Pflanze, von denen er ſich nährt, als die Luft, in der er

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/22
Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/22>, abgerufen am 21.11.2024.