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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Gastfreundschaft.
je weniger dabei das Eigene gesucht war, um so reichlicher
strömte der Segen zu, der Engelsegen, welcher dem gastfreien
Manne in das Haus kommt. Denn die, welche um ihres
Gewissens willen Hab und Gut und Heimath aufgaben, waren
gewiß nicht die Schlechtsten ihres Volks; es waren Träger
idealer Interessen, Männer der Freiheit, Männer des Muths
und selbstbewußter Kraft. Bei ihrer Aufnahme empfing das
Vaterland ungleich mehr als es gab. Talent und Geschick¬
lichkeit aller Art, Gelehrsamkeit, Bildung, feine Sitte -- wer
kann in kurzem Worte zusammenfassen, was Preußen und
Berlin den Colonien verdanken! Die königliche Tugend wurde
eine Tugend von Stadt und Land; sie erfüllte das Volk mit
frohem Stolze und gab dem Kurfürstenthum das Gefühl eines
werdenden Großstaats. Dogmatische Zänkereien wurden bei
tief religiöser Erregung glücklich vergessen und engherzige
Vorurtheile beseitigt, denn der schönste Segen der Tugend,
welche wir mit dem Namen der Gastfreiheit ehren, ist die
geistige Freiheit, das weite Herz, der unbeschränkte Blick, die
freudige Anerkennung jedes geistigen Fortschritts ohne Ansehen
der Person.

So ist Preußen in Stand gesetzt worden, sich die Kräfte
der begabtesten Nationen, die geistige Regsamkeit der Fran¬
zosen, sowie die reichen Gaben der jüdischen Bevölkerung an¬
zueignen, ohne Gefahr zu laufen, seinen geschichtlichen Cha¬
rakter einzubüßen oder sein deutsches Gepräge zu verwischen.
Der Staat der Hohenzollern hat einem spröden Partikularis¬
mus niemals huldigen können und die Reihe der Marmor¬
büsten, welche, um acht vermehrt, heute unsere Aula schmücken,
legt Zeugniß davon ab, wie man aus allen Gebieten des
Vaterlandes die Lehrer herbeigerufen hat; kaum der vierte
Theil besteht aus geborenen Preußen. Man hatte aber dabei
in der That keinen anderen Gesichtspunkt als den, welchen
Perikles für Athen im Auge hatte, daß nämlich alle Inter¬
essen des nationalen Geistes solche Pflege des Staats ge¬
nießen sollten, daß jeder Volksgenosse in ihm sich heimisch
fühle, ohne sein Angestammtes aufzugeben. Daher haben ja

Die Gaſtfreundſchaft.
je weniger dabei das Eigene geſucht war, um ſo reichlicher
ſtrömte der Segen zu, der Engelſegen, welcher dem gaſtfreien
Manne in das Haus kommt. Denn die, welche um ihres
Gewiſſens willen Hab und Gut und Heimath aufgaben, waren
gewiß nicht die Schlechtſten ihres Volks; es waren Träger
idealer Intereſſen, Männer der Freiheit, Männer des Muths
und ſelbſtbewußter Kraft. Bei ihrer Aufnahme empfing das
Vaterland ungleich mehr als es gab. Talent und Geſchick¬
lichkeit aller Art, Gelehrſamkeit, Bildung, feine Sitte — wer
kann in kurzem Worte zuſammenfaſſen, was Preußen und
Berlin den Colonien verdanken! Die königliche Tugend wurde
eine Tugend von Stadt und Land; ſie erfüllte das Volk mit
frohem Stolze und gab dem Kurfürſtenthum das Gefühl eines
werdenden Großſtaats. Dogmatiſche Zänkereien wurden bei
tief religiöſer Erregung glücklich vergeſſen und engherzige
Vorurtheile beſeitigt, denn der ſchönſte Segen der Tugend,
welche wir mit dem Namen der Gaſtfreiheit ehren, iſt die
geiſtige Freiheit, das weite Herz, der unbeſchränkte Blick, die
freudige Anerkennung jedes geiſtigen Fortſchritts ohne Anſehen
der Perſon.

So iſt Preußen in Stand geſetzt worden, ſich die Kräfte
der begabteſten Nationen, die geiſtige Regſamkeit der Fran¬
zoſen, ſowie die reichen Gaben der jüdiſchen Bevölkerung an¬
zueignen, ohne Gefahr zu laufen, ſeinen geſchichtlichen Cha¬
rakter einzubüßen oder ſein deutſches Gepräge zu verwiſchen.
Der Staat der Hohenzollern hat einem ſpröden Partikularis¬
mus niemals huldigen können und die Reihe der Marmor¬
büſten, welche, um acht vermehrt, heute unſere Aula ſchmücken,
legt Zeugniß davon ab, wie man aus allen Gebieten des
Vaterlandes die Lehrer herbeigerufen hat; kaum der vierte
Theil beſteht aus geborenen Preußen. Man hatte aber dabei
in der That keinen anderen Geſichtspunkt als den, welchen
Perikles für Athen im Auge hatte, daß nämlich alle Inter¬
eſſen des nationalen Geiſtes ſolche Pflege des Staats ge¬
nießen ſollten, daß jeder Volksgenoſſe in ihm ſich heimiſch
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[215/0231] Die Gaſtfreundſchaft. je weniger dabei das Eigene geſucht war, um ſo reichlicher ſtrömte der Segen zu, der Engelſegen, welcher dem gaſtfreien Manne in das Haus kommt. Denn die, welche um ihres Gewiſſens willen Hab und Gut und Heimath aufgaben, waren gewiß nicht die Schlechtſten ihres Volks; es waren Träger idealer Intereſſen, Männer der Freiheit, Männer des Muths und ſelbſtbewußter Kraft. Bei ihrer Aufnahme empfing das Vaterland ungleich mehr als es gab. Talent und Geſchick¬ lichkeit aller Art, Gelehrſamkeit, Bildung, feine Sitte — wer kann in kurzem Worte zuſammenfaſſen, was Preußen und Berlin den Colonien verdanken! Die königliche Tugend wurde eine Tugend von Stadt und Land; ſie erfüllte das Volk mit frohem Stolze und gab dem Kurfürſtenthum das Gefühl eines werdenden Großſtaats. Dogmatiſche Zänkereien wurden bei tief religiöſer Erregung glücklich vergeſſen und engherzige Vorurtheile beſeitigt, denn der ſchönſte Segen der Tugend, welche wir mit dem Namen der Gaſtfreiheit ehren, iſt die geiſtige Freiheit, das weite Herz, der unbeſchränkte Blick, die freudige Anerkennung jedes geiſtigen Fortſchritts ohne Anſehen der Perſon. So iſt Preußen in Stand geſetzt worden, ſich die Kräfte der begabteſten Nationen, die geiſtige Regſamkeit der Fran¬ zoſen, ſowie die reichen Gaben der jüdiſchen Bevölkerung an¬ zueignen, ohne Gefahr zu laufen, ſeinen geſchichtlichen Cha¬ rakter einzubüßen oder ſein deutſches Gepräge zu verwiſchen. Der Staat der Hohenzollern hat einem ſpröden Partikularis¬ mus niemals huldigen können und die Reihe der Marmor¬ büſten, welche, um acht vermehrt, heute unſere Aula ſchmücken, legt Zeugniß davon ab, wie man aus allen Gebieten des Vaterlandes die Lehrer herbeigerufen hat; kaum der vierte Theil beſteht aus geborenen Preußen. Man hatte aber dabei in der That keinen anderen Geſichtspunkt als den, welchen Perikles für Athen im Auge hatte, daß nämlich alle Inter¬ eſſen des nationalen Geiſtes ſolche Pflege des Staats ge¬ nießen ſollten, daß jeder Volksgenoſſe in ihm ſich heimiſch fühle, ohne ſein Angeſtammtes aufzugeben. Daher haben ja

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/231>, abgerufen am 23.11.2024.