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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Wort und Schrift.

Wo sich aber ein ungeahnter Zusammenhang aufschließt,
da ist der erste Eindruck überall kein anderer, als der, daß
das Einzelne und Besondere vor dem Gemeinsamen und
Uebereinstimmenden zurücktritt. So ist es in der Sprach¬
wissenschaft gegangen, nachdem man den großen Zusammen¬
hang der Völkerzungen entdeckt hatte; der Charakter der ein¬
zelnen Sprachen schien gänzlich zu verschwinden, bis sich wieder
eine neue Richtung geltend machte, welche die Besonderheit der
verschiedenen Sprachgruppen und das unterscheidende Gepräge
der Einzelsprachen zu ihrem Rechte kommen ließ. So wird
auch in einem der jüngsten Zweige der Wissenschaft, der ver¬
gleichenden Mythologie, nur durch Verbindung beider Rich¬
tungen die Wahrheit gefunden werden. Die wichtigsten Fragen,
welche hierher gehören, betreffen das griechische Volk, insofern
seine Stellung zum früheren Alterthume eine Lebensfrage der
allgemeinen Bildungsgeschichte ist, und um ihrer genügenden
Beantwortung näher zu kommen, müssen wir vornehmlich
einen Grundsatz festhalten, welcher nur zu häufig außer Acht
gelassen wird, den Grundsatz nämlich, daß wir uns die Aus¬
breitung geistiger Bildung nicht wie einen Strom vorzustellen
haben, der mit physischer Nothwendigkeit unaufhaltsam vor¬
dringt, sondern unsere Aufgabe vorzüglich darin erkennen, daß
wir die besonderen Bedingungen aufspüren, unter denen ein
Volk von dem anderen früher oder später, rasch und auf ein¬
mal oder mit zögernder Zurückhaltung, die Erfindungen, Künste
und Wissenschaften annimmt. Ein deutliches Beispiel giebt die
wichtigste aller menschlichen Erfindungen, die Schrift.

Ueber keinen Gegenstand alter Culturgeschichte ist in unserer
Zeit soviel neuer Stoff zugetragen worden, und alle früheren
Ansichten darüber erweisen sich immer ungenügender, je weiter
sich der Ueberblick über das Schriftwesen des Alterthums er¬
öffnet. Bei den Aegyptern finden wir auf Denkmälern, welche
dem vierten Jahrtausend vorchristlicher Zeit angehören, Papy¬
rusrolle und Dintenfaß unter den gewöhnlichen Geräthen des
täglichen Lebens, und nachdem die mit Schrift überschütteten
Paläste der alten Königsstädte Asiens zu Tage getreten sind,

Wort und Schrift.

Wo ſich aber ein ungeahnter Zuſammenhang aufſchließt,
da iſt der erſte Eindruck überall kein anderer, als der, daß
das Einzelne und Beſondere vor dem Gemeinſamen und
Uebereinſtimmenden zurücktritt. So iſt es in der Sprach¬
wiſſenſchaft gegangen, nachdem man den großen Zuſammen¬
hang der Völkerzungen entdeckt hatte; der Charakter der ein¬
zelnen Sprachen ſchien gänzlich zu verſchwinden, bis ſich wieder
eine neue Richtung geltend machte, welche die Beſonderheit der
verſchiedenen Sprachgruppen und das unterſcheidende Gepräge
der Einzelſprachen zu ihrem Rechte kommen ließ. So wird
auch in einem der jüngſten Zweige der Wiſſenſchaft, der ver¬
gleichenden Mythologie, nur durch Verbindung beider Rich¬
tungen die Wahrheit gefunden werden. Die wichtigſten Fragen,
welche hierher gehören, betreffen das griechiſche Volk, inſofern
ſeine Stellung zum früheren Alterthume eine Lebensfrage der
allgemeinen Bildungsgeſchichte iſt, und um ihrer genügenden
Beantwortung näher zu kommen, müſſen wir vornehmlich
einen Grundſatz feſthalten, welcher nur zu häufig außer Acht
gelaſſen wird, den Grundſatz nämlich, daß wir uns die Aus¬
breitung geiſtiger Bildung nicht wie einen Strom vorzuſtellen
haben, der mit phyſiſcher Nothwendigkeit unaufhaltſam vor¬
dringt, ſondern unſere Aufgabe vorzüglich darin erkennen, daß
wir die beſonderen Bedingungen aufſpüren, unter denen ein
Volk von dem anderen früher oder ſpäter, raſch und auf ein¬
mal oder mit zögernder Zurückhaltung, die Erfindungen, Künſte
und Wiſſenſchaften annimmt. Ein deutliches Beiſpiel giebt die
wichtigſte aller menſchlichen Erfindungen, die Schrift.

Ueber keinen Gegenſtand alter Culturgeſchichte iſt in unſerer
Zeit ſoviel neuer Stoff zugetragen worden, und alle früheren
Anſichten darüber erweiſen ſich immer ungenügender, je weiter
ſich der Ueberblick über das Schriftweſen des Alterthums er¬
öffnet. Bei den Aegyptern finden wir auf Denkmälern, welche
dem vierten Jahrtauſend vorchriſtlicher Zeit angehören, Papy¬
rusrolle und Dintenfaß unter den gewöhnlichen Geräthen des
täglichen Lebens, und nachdem die mit Schrift überſchütteten
Paläſte der alten Königsſtädte Aſiens zu Tage getreten ſind,

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[252/0268] Wort und Schrift. Wo ſich aber ein ungeahnter Zuſammenhang aufſchließt, da iſt der erſte Eindruck überall kein anderer, als der, daß das Einzelne und Beſondere vor dem Gemeinſamen und Uebereinſtimmenden zurücktritt. So iſt es in der Sprach¬ wiſſenſchaft gegangen, nachdem man den großen Zuſammen¬ hang der Völkerzungen entdeckt hatte; der Charakter der ein¬ zelnen Sprachen ſchien gänzlich zu verſchwinden, bis ſich wieder eine neue Richtung geltend machte, welche die Beſonderheit der verſchiedenen Sprachgruppen und das unterſcheidende Gepräge der Einzelſprachen zu ihrem Rechte kommen ließ. So wird auch in einem der jüngſten Zweige der Wiſſenſchaft, der ver¬ gleichenden Mythologie, nur durch Verbindung beider Rich¬ tungen die Wahrheit gefunden werden. Die wichtigſten Fragen, welche hierher gehören, betreffen das griechiſche Volk, inſofern ſeine Stellung zum früheren Alterthume eine Lebensfrage der allgemeinen Bildungsgeſchichte iſt, und um ihrer genügenden Beantwortung näher zu kommen, müſſen wir vornehmlich einen Grundſatz feſthalten, welcher nur zu häufig außer Acht gelaſſen wird, den Grundſatz nämlich, daß wir uns die Aus¬ breitung geiſtiger Bildung nicht wie einen Strom vorzuſtellen haben, der mit phyſiſcher Nothwendigkeit unaufhaltſam vor¬ dringt, ſondern unſere Aufgabe vorzüglich darin erkennen, daß wir die beſonderen Bedingungen aufſpüren, unter denen ein Volk von dem anderen früher oder ſpäter, raſch und auf ein¬ mal oder mit zögernder Zurückhaltung, die Erfindungen, Künſte und Wiſſenſchaften annimmt. Ein deutliches Beiſpiel giebt die wichtigſte aller menſchlichen Erfindungen, die Schrift. Ueber keinen Gegenſtand alter Culturgeſchichte iſt in unſerer Zeit ſoviel neuer Stoff zugetragen worden, und alle früheren Anſichten darüber erweiſen ſich immer ungenügender, je weiter ſich der Ueberblick über das Schriftweſen des Alterthums er¬ öffnet. Bei den Aegyptern finden wir auf Denkmälern, welche dem vierten Jahrtauſend vorchriſtlicher Zeit angehören, Papy¬ rusrolle und Dintenfaß unter den gewöhnlichen Geräthen des täglichen Lebens, und nachdem die mit Schrift überſchütteten Paläſte der alten Königsſtädte Aſiens zu Tage getreten ſind,

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/268>, abgerufen am 23.11.2024.