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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Wort und Schrift.
Namen trugen; die Babylonier hatten ihre heiligen Urkunden,
die von Xisuthrus aufgezeichneten, in Sippara, der Schrift¬
stadt, vergraben. Auch die Völker Irans hatten in den ge¬
schriebenen Lehren Zarathustra's einen festen Kanon ihres reli¬
giösen Lebens. Hierin besteht ja aber der wichtigste Unter¬
schied zwischen den Orientalen und den Hellenen, daß diese
kein von den Vätern überliefertes Gesetz hatten. Ihr Beruf
war es, frei und ledig von jedem Gesetzeszwange, in Geist
und Natur den Schöpfer zu suchen und die im Menschen
ruhende Gottesidee in Philosophie und Kunst freithätig zu
entwickeln. Darum war ihnen die Schrift von Anfang an
von geringerer Bedeutung und hatte nicht die religiöse Weihe,
wie bei den genannten Völkern. Denn was bei ihnen an
geschriebenen Tafeln in den Heiligthümern vorhanden war,
diente nur als Mittel, um gewisse Cultusregeln und äußerliche
Ordnungen des Gottesdienstes festzustellen, aber nirgends finden
wir eine Spur von religiösen Grundgesetzen und Glaubens¬
lehren, welche aus Gottes Hand hervorgegangen sein sollten,
und keinen ihrer nationalen Götter verehrten sie als Erfinder
der Schrift.

Während die Griechen im religiösen Glauben dem Ge¬
wissen der Einzelnen eine unbegränzte Freiheit einräumten,
haben sie auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts die Noth¬
wendigkeit gesetzlicher Gebundenheit in vollem Maße empfunden.
Hier legten sie den größten Werth auf eine feste Ueberlieferung;
hier also, sollte man denken, wäre die Schrift ihnen besonders
willkommen gewesen, um den Rechtsboden zu sichern. Und
dennoch hat kein griechischer Staat mit einer Verfassungs¬
urkunde begonnen. Die berühmtesten Verfassungen haben Jahr¬
hunderte lang ohne Schriftgesetz bestanden; denn sie beruhten
auf der durch Götterspruch geheiligten Sitte, welche sich in
den Bürgern lebendig darstellen und gleichsam immer neu er¬
zeugen sollte. Darum sollte dies Gesetz nicht als ein äußer¬
liches ihnen gegenüber stehen, sondern in ihnen leben, wie die
Stimme ihres eigenen Gewissens. Erst als die freie Sitt¬
lichkeit des bürgerlichen Lebens erschüttert und die Harmonie

Wort und Schrift.
Namen trugen; die Babylonier hatten ihre heiligen Urkunden,
die von Xiſuthrus aufgezeichneten, in Sippara, der Schrift¬
ſtadt, vergraben. Auch die Völker Irans hatten in den ge¬
ſchriebenen Lehren Zarathuſtra's einen feſten Kanon ihres reli¬
giöſen Lebens. Hierin beſteht ja aber der wichtigſte Unter¬
ſchied zwiſchen den Orientalen und den Hellenen, daß dieſe
kein von den Vätern überliefertes Geſetz hatten. Ihr Beruf
war es, frei und ledig von jedem Geſetzeszwange, in Geiſt
und Natur den Schöpfer zu ſuchen und die im Menſchen
ruhende Gottesidee in Philoſophie und Kunſt freithätig zu
entwickeln. Darum war ihnen die Schrift von Anfang an
von geringerer Bedeutung und hatte nicht die religiöſe Weihe,
wie bei den genannten Völkern. Denn was bei ihnen an
geſchriebenen Tafeln in den Heiligthümern vorhanden war,
diente nur als Mittel, um gewiſſe Cultusregeln und äußerliche
Ordnungen des Gottesdienſtes feſtzuſtellen, aber nirgends finden
wir eine Spur von religiöſen Grundgeſetzen und Glaubens¬
lehren, welche aus Gottes Hand hervorgegangen ſein ſollten,
und keinen ihrer nationalen Götter verehrten ſie als Erfinder
der Schrift.

Während die Griechen im religiöſen Glauben dem Ge¬
wiſſen der Einzelnen eine unbegränzte Freiheit einräumten,
haben ſie auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts die Noth¬
wendigkeit geſetzlicher Gebundenheit in vollem Maße empfunden.
Hier legten ſie den größten Werth auf eine feſte Ueberlieferung;
hier alſo, ſollte man denken, wäre die Schrift ihnen beſonders
willkommen geweſen, um den Rechtsboden zu ſichern. Und
dennoch hat kein griechiſcher Staat mit einer Verfaſſungs¬
urkunde begonnen. Die berühmteſten Verfaſſungen haben Jahr¬
hunderte lang ohne Schriftgeſetz beſtanden; denn ſie beruhten
auf der durch Götterſpruch geheiligten Sitte, welche ſich in
den Bürgern lebendig darſtellen und gleichſam immer neu er¬
zeugen ſollte. Darum ſollte dies Geſetz nicht als ein äußer¬
liches ihnen gegenüber ſtehen, ſondern in ihnen leben, wie die
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lichkeit des bürgerlichen Lebens erſchüttert und die Harmonie

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[254/0270] Wort und Schrift. Namen trugen; die Babylonier hatten ihre heiligen Urkunden, die von Xiſuthrus aufgezeichneten, in Sippara, der Schrift¬ ſtadt, vergraben. Auch die Völker Irans hatten in den ge¬ ſchriebenen Lehren Zarathuſtra's einen feſten Kanon ihres reli¬ giöſen Lebens. Hierin beſteht ja aber der wichtigſte Unter¬ ſchied zwiſchen den Orientalen und den Hellenen, daß dieſe kein von den Vätern überliefertes Geſetz hatten. Ihr Beruf war es, frei und ledig von jedem Geſetzeszwange, in Geiſt und Natur den Schöpfer zu ſuchen und die im Menſchen ruhende Gottesidee in Philoſophie und Kunſt freithätig zu entwickeln. Darum war ihnen die Schrift von Anfang an von geringerer Bedeutung und hatte nicht die religiöſe Weihe, wie bei den genannten Völkern. Denn was bei ihnen an geſchriebenen Tafeln in den Heiligthümern vorhanden war, diente nur als Mittel, um gewiſſe Cultusregeln und äußerliche Ordnungen des Gottesdienſtes feſtzuſtellen, aber nirgends finden wir eine Spur von religiöſen Grundgeſetzen und Glaubens¬ lehren, welche aus Gottes Hand hervorgegangen ſein ſollten, und keinen ihrer nationalen Götter verehrten ſie als Erfinder der Schrift. Während die Griechen im religiöſen Glauben dem Ge¬ wiſſen der Einzelnen eine unbegränzte Freiheit einräumten, haben ſie auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts die Noth¬ wendigkeit geſetzlicher Gebundenheit in vollem Maße empfunden. Hier legten ſie den größten Werth auf eine feſte Ueberlieferung; hier alſo, ſollte man denken, wäre die Schrift ihnen beſonders willkommen geweſen, um den Rechtsboden zu ſichern. Und dennoch hat kein griechiſcher Staat mit einer Verfaſſungs¬ urkunde begonnen. Die berühmteſten Verfaſſungen haben Jahr¬ hunderte lang ohne Schriftgeſetz beſtanden; denn ſie beruhten auf der durch Götterſpruch geheiligten Sitte, welche ſich in den Bürgern lebendig darſtellen und gleichſam immer neu er¬ zeugen ſollte. Darum ſollte dies Geſetz nicht als ein äußer¬ liches ihnen gegenüber ſtehen, ſondern in ihnen leben, wie die Stimme ihres eigenen Gewiſſens. Erſt als die freie Sitt¬ lichkeit des bürgerlichen Lebens erſchüttert und die Harmonie

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/270>, abgerufen am 23.11.2024.