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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Wort und Schrift.
dem römischen an sittlicher Haltung zu vergleichen und wie
dieser im Stande gewesen wäre, in den Zeiten des Verfalls
eine Stütze nationaler Gesinnung zu werden.

Auch im öffentlichen Rechte blieb die Abneigung gegen
die Autorität schriftlicher Satzung. Die ungeschriebenen Gesetze
galten immer als die heiligsten des Staats, und nur durch
die Umstände gezwungen, gingen die Gesetzgeber daran, die
ungeschriebene Sitte in die schlechtere Münze des geschriebenen
Buchstabens umzusetzen, welcher das Herkommen scheinbar be¬
festige, aber zugleich veräußerliche und dadurch unsicherer mache;
darum thaten sie Alles, um der Vermehrung der Gesetze vor¬
zubeugen, weil die Bürgschaft, welche sie gewährten, durch
jede Neuerung erschüttert würde. Zaleukos selbst, der erste
Urheber schriftlicher Gesetze, verglich dieselben mit Spinn¬
geweben, welche Mücken und Fliegen einfangen könnten, von
jedem größeren Thiere aber zerrissen würden. Auch nachdem
in den Perserkriegen die griechischen Gesetzesstaaten sich so
herrlich bewährt hatten, gab die Philosophie von den ver¬
schiedensten Standpunkten aus jener Abneigung, welche die
Anhänger alter Volkssitte gegen die geschriebenen Verfassungen
hatten, Ausdruck und Begründung. Man fand es widersinnig,
die ewig wechselnden Verhältnisse des Lebens unter die Herr¬
schaft des unlebendigen und verallgemeinernden Buchstabens
zu stellen; man verglich das Gesetz einem starren, eigensinnigen,
der gegebenen Verhältnisse unkundigen Menschen, und verlangte
statt seiner Herrschaft die eines vernünftigen Menschen, der mit
freiem Willen die Gemeinde lenke und in seiner Person das
Gesetz darstelle.

Aristoteles tritt diesen Feinden der Schriftgesetze und
ihrem unklaren Eifer mit der einfachen Bemerkung entgegen,
daß feste Normen einmal unentbehrlich seien im Staate und
daß es doch zweckmäßiger sei, wenn diese nicht in dem Ge¬
müthe eines von Leidenschaften bewegten Menschen, sondern
in Gesetzen enthalten wären, welche von allen persönlichen
Stimmungen unabhängig sind.

Auch die geschriebenen Gesetze sollen den Bürgern möglichst

Wort und Schrift.
dem römiſchen an ſittlicher Haltung zu vergleichen und wie
dieſer im Stande geweſen wäre, in den Zeiten des Verfalls
eine Stütze nationaler Geſinnung zu werden.

Auch im öffentlichen Rechte blieb die Abneigung gegen
die Autorität ſchriftlicher Satzung. Die ungeſchriebenen Geſetze
galten immer als die heiligſten des Staats, und nur durch
die Umſtände gezwungen, gingen die Geſetzgeber daran, die
ungeſchriebene Sitte in die ſchlechtere Münze des geſchriebenen
Buchſtabens umzuſetzen, welcher das Herkommen ſcheinbar be¬
feſtige, aber zugleich veräußerliche und dadurch unſicherer mache;
darum thaten ſie Alles, um der Vermehrung der Geſetze vor¬
zubeugen, weil die Bürgſchaft, welche ſie gewährten, durch
jede Neuerung erſchüttert würde. Zaleukos ſelbſt, der erſte
Urheber ſchriftlicher Geſetze, verglich dieſelben mit Spinn¬
geweben, welche Mücken und Fliegen einfangen könnten, von
jedem größeren Thiere aber zerriſſen würden. Auch nachdem
in den Perſerkriegen die griechiſchen Geſetzesſtaaten ſich ſo
herrlich bewährt hatten, gab die Philoſophie von den ver¬
ſchiedenſten Standpunkten aus jener Abneigung, welche die
Anhänger alter Volksſitte gegen die geſchriebenen Verfaſſungen
hatten, Ausdruck und Begründung. Man fand es widerſinnig,
die ewig wechſelnden Verhältniſſe des Lebens unter die Herr¬
ſchaft des unlebendigen und verallgemeinernden Buchſtabens
zu ſtellen; man verglich das Geſetz einem ſtarren, eigenſinnigen,
der gegebenen Verhältniſſe unkundigen Menſchen, und verlangte
ſtatt ſeiner Herrſchaft die eines vernünftigen Menſchen, der mit
freiem Willen die Gemeinde lenke und in ſeiner Perſon das
Geſetz darſtelle.

Ariſtoteles tritt dieſen Feinden der Schriftgeſetze und
ihrem unklaren Eifer mit der einfachen Bemerkung entgegen,
daß feſte Normen einmal unentbehrlich ſeien im Staate und
daß es doch zweckmäßiger ſei, wenn dieſe nicht in dem Ge¬
müthe eines von Leidenſchaften bewegten Menſchen, ſondern
in Geſetzen enthalten wären, welche von allen perſönlichen
Stimmungen unabhängig ſind.

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[256/0272] Wort und Schrift. dem römiſchen an ſittlicher Haltung zu vergleichen und wie dieſer im Stande geweſen wäre, in den Zeiten des Verfalls eine Stütze nationaler Geſinnung zu werden. Auch im öffentlichen Rechte blieb die Abneigung gegen die Autorität ſchriftlicher Satzung. Die ungeſchriebenen Geſetze galten immer als die heiligſten des Staats, und nur durch die Umſtände gezwungen, gingen die Geſetzgeber daran, die ungeſchriebene Sitte in die ſchlechtere Münze des geſchriebenen Buchſtabens umzuſetzen, welcher das Herkommen ſcheinbar be¬ feſtige, aber zugleich veräußerliche und dadurch unſicherer mache; darum thaten ſie Alles, um der Vermehrung der Geſetze vor¬ zubeugen, weil die Bürgſchaft, welche ſie gewährten, durch jede Neuerung erſchüttert würde. Zaleukos ſelbſt, der erſte Urheber ſchriftlicher Geſetze, verglich dieſelben mit Spinn¬ geweben, welche Mücken und Fliegen einfangen könnten, von jedem größeren Thiere aber zerriſſen würden. Auch nachdem in den Perſerkriegen die griechiſchen Geſetzesſtaaten ſich ſo herrlich bewährt hatten, gab die Philoſophie von den ver¬ ſchiedenſten Standpunkten aus jener Abneigung, welche die Anhänger alter Volksſitte gegen die geſchriebenen Verfaſſungen hatten, Ausdruck und Begründung. Man fand es widerſinnig, die ewig wechſelnden Verhältniſſe des Lebens unter die Herr¬ ſchaft des unlebendigen und verallgemeinernden Buchſtabens zu ſtellen; man verglich das Geſetz einem ſtarren, eigenſinnigen, der gegebenen Verhältniſſe unkundigen Menſchen, und verlangte ſtatt ſeiner Herrſchaft die eines vernünftigen Menſchen, der mit freiem Willen die Gemeinde lenke und in ſeiner Perſon das Geſetz darſtelle. Ariſtoteles tritt dieſen Feinden der Schriftgeſetze und ihrem unklaren Eifer mit der einfachen Bemerkung entgegen, daß feſte Normen einmal unentbehrlich ſeien im Staate und daß es doch zweckmäßiger ſei, wenn dieſe nicht in dem Ge¬ müthe eines von Leidenſchaften bewegten Menſchen, ſondern in Geſetzen enthalten wären, welche von allen perſönlichen Stimmungen unabhängig ſind. Auch die geſchriebenen Geſetze ſollen den Bürgern möglichſt

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/272>, abgerufen am 23.11.2024.