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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Wort und Schrift.
lateinischen, und wie bald erkennt man in Griechenland selbst
die Einwirkung des überhand nehmenden Schriftgebrauchs!
Was Plato gelang, ist keinem Zweiten gelungen; Isokrates
und seinen Schülern merkt man schon an, daß sie beim Schreiben
an das Schreiben dachten.

Auch für die Einheit eines Volks und den ungestörten
Zusammenhang aller Staatsangehörigen ist es nicht gleich¬
gültig, ob die Sprache früher oder später unter den Einfluß
der Schrift kommt. Denn das Lesen wie das Schreiben iso¬
lirt den Menschen; wer viel in Büchern lebt, läuft Gefahr,
sich den Anschauungen und Sitten seiner Mitbürger zu ent¬
fremden; durch die bequeme Gelegenheit, welche sich ihm dar¬
bietet, sich nach eigenem Belieben zu belehren, wird er gegen
den höheren Reiz lebendiger Wechselrede abgestumpft und
selbst ungelenk im mündlichen Verkehre. Darum trennt die
Schrift die zusammenwohnenden Menschen, während sie die
durch Zeit und Raum getrennten vereinigt. Die Gebildeten
sondern sich vom großen Haufen; es entstehen allmählich zwei
Klassen von Menschen, welche sich im Denken und Sprechen
gegenseitig immer unverständlicher werden. Eine solche Spal¬
tung widersprach aber durchaus dem Sinne der Alten, nament¬
lich der Athener, und wir begreifen, wie sehr die späte Ent¬
wickelung des Schriftwesens dazu beitragen mußte, nicht nur
Sprache und Dichtkunst der Hellenen volksthümlich zu erhalten,
sondern auch der bürgerlichen Gesellschaft die Einheit und
Gleichheit zu bewahren, worauf das Gedeihen der alten Re¬
publiken beruhte. Diejenigen Vortheile aber, welche die Schrift
für die Ausbildung der Sprache gewährt, indem sie zu einem
tieferen Verständnisse ihres Organismus und zu einer voll¬
kommeneren Benutzung derselben anleitet, waren für die Griechen
unwesentlicher, weil sie vermöge ihrer natürlichen Anlage auch
ohne Nachhülfe der Schrift zu einer vollkommenen Beherr¬
schung ihrer Sprache gelangt waren.

Wort und Schrift, das sind auch jetzt noch die beiden
Angelpunkte aller geistigen Bildung, und jene von den Rhe¬
toren des Alterthums viel behandelte Frage, ob Schrift oder

Wort und Schrift.
lateiniſchen, und wie bald erkennt man in Griechenland ſelbſt
die Einwirkung des überhand nehmenden Schriftgebrauchs!
Was Plato gelang, iſt keinem Zweiten gelungen; Iſokrates
und ſeinen Schülern merkt man ſchon an, daß ſie beim Schreiben
an das Schreiben dachten.

Auch für die Einheit eines Volks und den ungeſtörten
Zuſammenhang aller Staatsangehörigen iſt es nicht gleich¬
gültig, ob die Sprache früher oder ſpäter unter den Einfluß
der Schrift kommt. Denn das Leſen wie das Schreiben iſo¬
lirt den Menſchen; wer viel in Büchern lebt, läuft Gefahr,
ſich den Anſchauungen und Sitten ſeiner Mitbürger zu ent¬
fremden; durch die bequeme Gelegenheit, welche ſich ihm dar¬
bietet, ſich nach eigenem Belieben zu belehren, wird er gegen
den höheren Reiz lebendiger Wechſelrede abgeſtumpft und
ſelbſt ungelenk im mündlichen Verkehre. Darum trennt die
Schrift die zuſammenwohnenden Menſchen, während ſie die
durch Zeit und Raum getrennten vereinigt. Die Gebildeten
ſondern ſich vom großen Haufen; es entſtehen allmählich zwei
Klaſſen von Menſchen, welche ſich im Denken und Sprechen
gegenſeitig immer unverſtändlicher werden. Eine ſolche Spal¬
tung widerſprach aber durchaus dem Sinne der Alten, nament¬
lich der Athener, und wir begreifen, wie ſehr die ſpäte Ent¬
wickelung des Schriftweſens dazu beitragen mußte, nicht nur
Sprache und Dichtkunſt der Hellenen volksthümlich zu erhalten,
ſondern auch der bürgerlichen Geſellſchaft die Einheit und
Gleichheit zu bewahren, worauf das Gedeihen der alten Re¬
publiken beruhte. Diejenigen Vortheile aber, welche die Schrift
für die Ausbildung der Sprache gewährt, indem ſie zu einem
tieferen Verſtändniſſe ihres Organismus und zu einer voll¬
kommeneren Benutzung derſelben anleitet, waren für die Griechen
unweſentlicher, weil ſie vermöge ihrer natürlichen Anlage auch
ohne Nachhülfe der Schrift zu einer vollkommenen Beherr¬
ſchung ihrer Sprache gelangt waren.

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[264/0280] Wort und Schrift. lateiniſchen, und wie bald erkennt man in Griechenland ſelbſt die Einwirkung des überhand nehmenden Schriftgebrauchs! Was Plato gelang, iſt keinem Zweiten gelungen; Iſokrates und ſeinen Schülern merkt man ſchon an, daß ſie beim Schreiben an das Schreiben dachten. Auch für die Einheit eines Volks und den ungeſtörten Zuſammenhang aller Staatsangehörigen iſt es nicht gleich¬ gültig, ob die Sprache früher oder ſpäter unter den Einfluß der Schrift kommt. Denn das Leſen wie das Schreiben iſo¬ lirt den Menſchen; wer viel in Büchern lebt, läuft Gefahr, ſich den Anſchauungen und Sitten ſeiner Mitbürger zu ent¬ fremden; durch die bequeme Gelegenheit, welche ſich ihm dar¬ bietet, ſich nach eigenem Belieben zu belehren, wird er gegen den höheren Reiz lebendiger Wechſelrede abgeſtumpft und ſelbſt ungelenk im mündlichen Verkehre. Darum trennt die Schrift die zuſammenwohnenden Menſchen, während ſie die durch Zeit und Raum getrennten vereinigt. Die Gebildeten ſondern ſich vom großen Haufen; es entſtehen allmählich zwei Klaſſen von Menſchen, welche ſich im Denken und Sprechen gegenſeitig immer unverſtändlicher werden. Eine ſolche Spal¬ tung widerſprach aber durchaus dem Sinne der Alten, nament¬ lich der Athener, und wir begreifen, wie ſehr die ſpäte Ent¬ wickelung des Schriftweſens dazu beitragen mußte, nicht nur Sprache und Dichtkunſt der Hellenen volksthümlich zu erhalten, ſondern auch der bürgerlichen Geſellſchaft die Einheit und Gleichheit zu bewahren, worauf das Gedeihen der alten Re¬ publiken beruhte. Diejenigen Vortheile aber, welche die Schrift für die Ausbildung der Sprache gewährt, indem ſie zu einem tieferen Verſtändniſſe ihres Organismus und zu einer voll¬ kommeneren Benutzung derſelben anleitet, waren für die Griechen unweſentlicher, weil ſie vermöge ihrer natürlichen Anlage auch ohne Nachhülfe der Schrift zu einer vollkommenen Beherr¬ ſchung ihrer Sprache gelangt waren. Wort und Schrift, das ſind auch jetzt noch die beiden Angelpunkte aller geiſtigen Bildung, und jene von den Rhe¬ toren des Alterthums viel behandelte Frage, ob Schrift oder

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/280>, abgerufen am 23.11.2024.