Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Der historische Sinn der Griechen. wünschten Symmetrie zu Liebe das kaspische Meer eine Buchtdes Nordmeers sein, wie das persische Meer der Südsee, und nach der Voraussetzung, daß die Donau in Richtung und Länge dem Nile entspreche, entwarf Herodot seine Karte von den Wohnsitzen der Scythen. Diese falsche Systematik verband sich mit gewissen volks¬ Mit dem Streben nach systematischer Anordnung hängt Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. wünſchten Symmetrie zu Liebe das kaſpiſche Meer eine Buchtdes Nordmeers ſein, wie das perſiſche Meer der Südſee, und nach der Vorausſetzung, daß die Donau in Richtung und Länge dem Nile entſpreche, entwarf Herodot ſeine Karte von den Wohnſitzen der Scythen. Dieſe falſche Syſtematik verband ſich mit gewiſſen volks¬ Mit dem Streben nach ſyſtematiſcher Anordnung hängt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0287" n="271"/><fw place="top" type="header">Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.<lb/></fw> wünſchten Symmetrie zu Liebe das kaſpiſche Meer eine Bucht<lb/> des Nordmeers ſein, wie das perſiſche Meer der Südſee, und<lb/> nach der Vorausſetzung, daß die Donau in Richtung und<lb/> Länge dem Nile entſpreche, entwarf Herodot ſeine Karte von<lb/> den Wohnſitzen der Scythen.</p><lb/> <p>Dieſe falſche Syſtematik verband ſich mit gewiſſen volks¬<lb/> thümlichen Anſchauungen, mit denen eine unbefangene Welt¬<lb/> betrachtung unverträglich war. Im Bewußtſein ihrer Vor¬<lb/> züge betrachteten ſich die Hellenen als ein bevorrechtetes Ge¬<lb/> ſchlecht unter den Völkern der Erde, als den einzigen Zweig der<lb/> Menſchheit, welcher zu einer vollen Entwickelung des geiſtigen<lb/> Lebens in Geſetzgebung, Kunſt und Wiſſenſchaft berufen ſei.<lb/> Von dieſem Standpunkte aus konnten ſie den anderen Nationen,<lb/> welche ſie als untergeordnete Racen anſahen, keine unpar¬<lb/> teiiſche Beachtung zuwenden und ihre ganze Geſchichtsbe¬<lb/> trachtung mußte eine einſeitige ſein. Daran knüpften ſich an¬<lb/> dere Vorurtheile. Man dachte ſich die Herde des geiſtigen<lb/> Lebens auch als räumliche Mittelpunkte. Darum mußte die<lb/> Erde das Centrum der Welt ſein und Hellas, mit Delphi in<lb/> der Mitte, das Centrum der Erde. Traf man alſo im Oſten<lb/> des Meeres verwandte Stämme, ſo mußten dieſe von Weſten<lb/> nach Oſten eingewandert ſein. An dieſen nationalen An¬<lb/> ſchauungen hielt man mit Zähigkeit feſt, auch nachdem die<lb/> Wiſſenſchaft ſie längſt widerlegt hatte, und verketzerte noch im<lb/> zweiten Jahrhunderte v. Chr. die großen Aſtronomen, die<lb/> Vorgänger des Copernicus, weil ſie den heiligen Herd der<lb/> Welt zu bewegen wagten.</p><lb/> <p>Mit dem Streben nach ſyſtematiſcher Anordnung hängt<lb/> eine andere Richtung zuſammen, welche die unbefangene Auf¬<lb/> faſſung des Thatſächlichen noch mehr beeinträchtigen mußte;<lb/> das iſt die Abneigung gegen die Willkür des Zufalls. Die<lb/> Griechen wollten in der Poeſie dem Zufalle keinen Spielraum<lb/> laſſen, weil er die Einheitlichkeit menſchlicher Handlungen zer¬<lb/> ſtört, und da ſie ihren künſtleriſchen Sinn überall geltend<lb/> machten, wollten ſie das Zufällige auch aus der Geſchichte<lb/> verdrängen. Auch in ihr ſollte Alles mit innerer Nothwen¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [271/0287]
Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
wünſchten Symmetrie zu Liebe das kaſpiſche Meer eine Bucht
des Nordmeers ſein, wie das perſiſche Meer der Südſee, und
nach der Vorausſetzung, daß die Donau in Richtung und
Länge dem Nile entſpreche, entwarf Herodot ſeine Karte von
den Wohnſitzen der Scythen.
Dieſe falſche Syſtematik verband ſich mit gewiſſen volks¬
thümlichen Anſchauungen, mit denen eine unbefangene Welt¬
betrachtung unverträglich war. Im Bewußtſein ihrer Vor¬
züge betrachteten ſich die Hellenen als ein bevorrechtetes Ge¬
ſchlecht unter den Völkern der Erde, als den einzigen Zweig der
Menſchheit, welcher zu einer vollen Entwickelung des geiſtigen
Lebens in Geſetzgebung, Kunſt und Wiſſenſchaft berufen ſei.
Von dieſem Standpunkte aus konnten ſie den anderen Nationen,
welche ſie als untergeordnete Racen anſahen, keine unpar¬
teiiſche Beachtung zuwenden und ihre ganze Geſchichtsbe¬
trachtung mußte eine einſeitige ſein. Daran knüpften ſich an¬
dere Vorurtheile. Man dachte ſich die Herde des geiſtigen
Lebens auch als räumliche Mittelpunkte. Darum mußte die
Erde das Centrum der Welt ſein und Hellas, mit Delphi in
der Mitte, das Centrum der Erde. Traf man alſo im Oſten
des Meeres verwandte Stämme, ſo mußten dieſe von Weſten
nach Oſten eingewandert ſein. An dieſen nationalen An¬
ſchauungen hielt man mit Zähigkeit feſt, auch nachdem die
Wiſſenſchaft ſie längſt widerlegt hatte, und verketzerte noch im
zweiten Jahrhunderte v. Chr. die großen Aſtronomen, die
Vorgänger des Copernicus, weil ſie den heiligen Herd der
Welt zu bewegen wagten.
Mit dem Streben nach ſyſtematiſcher Anordnung hängt
eine andere Richtung zuſammen, welche die unbefangene Auf¬
faſſung des Thatſächlichen noch mehr beeinträchtigen mußte;
das iſt die Abneigung gegen die Willkür des Zufalls. Die
Griechen wollten in der Poeſie dem Zufalle keinen Spielraum
laſſen, weil er die Einheitlichkeit menſchlicher Handlungen zer¬
ſtört, und da ſie ihren künſtleriſchen Sinn überall geltend
machten, wollten ſie das Zufällige auch aus der Geſchichte
verdrängen. Auch in ihr ſollte Alles mit innerer Nothwen¬
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |