Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Der historische Sinn der Griechen. hange standen, persönlich mit einander verkehren, wie KönigNuma und Pythagoras, und um die Einführung der homeri¬ schen Gedichte in Sparta zu erklären, ließ man Lykurgos un¬ mittelbar aus des Dichters Händen seine Werke in Empfang nehmen. Es ist eine poetische Anschauung, welche ihren großen Reiz hat, aber es liegt ihr eine gewisse Unlust an sorgfältiger Prüfung der Thatsachen und historischer Kritik zu Grunde, und in so fern hat sie ohne Zweifel dazu beigetragen, den Blick für geschichtliche Verhältnisse zu trüben. Endlich war die eigentliche Entwickelungsperiode des grie¬ Der hiſtoriſche Sinn der Griechen. hange ſtanden, perſönlich mit einander verkehren, wie KönigNuma und Pythagoras, und um die Einführung der homeri¬ ſchen Gedichte in Sparta zu erklären, ließ man Lykurgos un¬ mittelbar aus des Dichters Händen ſeine Werke in Empfang nehmen. Es iſt eine poetiſche Anſchauung, welche ihren großen Reiz hat, aber es liegt ihr eine gewiſſe Unluſt an ſorgfältiger Prüfung der Thatſachen und hiſtoriſcher Kritik zu Grunde, und in ſo fern hat ſie ohne Zweifel dazu beigetragen, den Blick für geſchichtliche Verhältniſſe zu trüben. Endlich war die eigentliche Entwickelungsperiode des grie¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0292" n="276"/><fw place="top" type="header">Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.<lb/></fw> hange ſtanden, perſönlich mit einander verkehren, wie König<lb/> Numa und Pythagoras, und um die Einführung der homeri¬<lb/> ſchen Gedichte in Sparta zu erklären, ließ man Lykurgos un¬<lb/> mittelbar aus des Dichters Händen ſeine Werke in Empfang<lb/> nehmen. Es iſt eine poetiſche Anſchauung, welche ihren großen<lb/> Reiz hat, aber es liegt ihr eine gewiſſe Unluſt an ſorgfältiger<lb/> Prüfung der Thatſachen und hiſtoriſcher Kritik zu Grunde,<lb/> und in ſo fern hat ſie ohne Zweifel dazu beigetragen, den<lb/> Blick für geſchichtliche Verhältniſſe zu trüben.</p><lb/> <p>Endlich war die eigentliche Entwickelungsperiode des grie¬<lb/> chiſchen Geiſtes, in welcher ſich eine wiſſenſchaftlichere Ge¬<lb/> ſchichtsbetrachtung hätte ausbilden können, eine ſo tief und<lb/> vielfach bewegte, daß es dazu an Muße und Ruhe fehlte.<lb/> Man denke, was ſeit Anfang der Olympiaden auf engem<lb/> Raum in den zahlloſen Cantonen Griechenlands für eine gäh¬<lb/> rende Bewegung ſtattfand, da ſich die neuen Staaten auf den<lb/> Trümmern der alten gründeten und unter äußeren und inneren<lb/> Kämpfen ihre gegenſeitigen Verhältniſſe geſtalteten. In den<lb/> meiſten Staaten folgten raſche Umſchwünge auf einander, Um¬<lb/> ſturz des Fürſtenthums, Aufhebung der Geſchlechtsprivilegien,<lb/> Gewaltherrſchaften, die nach kurzem Glanze wieder anderen<lb/> bürgerlichen Ordnungen Platz machten. Da war ein volles,<lb/> den Aufgaben des Tages hingegebenes, von Parteien beweg¬<lb/> tes, nach allen Seiten angeregtes öffentliches Leben, und dieſe<lb/> Geſchäftigkeit bezog ſich nicht bloß auf die inneren Angelegen¬<lb/> heiten, auf Regierung und Geſetzgebung, auf Ausbildung der<lb/> Feſte, auf Gymnaſtik und Kunſt, ſondern es ging weit über<lb/> die Gränzen der Heimath hinaus; neue Seewege wurden ent¬<lb/> deckt, neue Handelsverbindungen angeknüpft, Pflanzſtädte an<lb/> allen Geſtaden des Meers gegründet. Je kleiner aber die<lb/> Gemeinden waren, um ſo unmittelbarer wurde Alles in die<lb/> raſtloſe Geſchäftigkeit mit herein gezogen; es war kein Stand<lb/> unbetheiligt, es blieb kein Platz ſtiller Beſchaulichkeit; man<lb/> hatte keine Zeit an die Vergangenheit zu denken; die Bewegung<lb/> war zu mächtig, um ſie überſehen und beherrſchen zu können;<lb/> man machte zu viel Geſchichte, um Geſchichte zu ſchreiben.<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [276/0292]
Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
hange ſtanden, perſönlich mit einander verkehren, wie König
Numa und Pythagoras, und um die Einführung der homeri¬
ſchen Gedichte in Sparta zu erklären, ließ man Lykurgos un¬
mittelbar aus des Dichters Händen ſeine Werke in Empfang
nehmen. Es iſt eine poetiſche Anſchauung, welche ihren großen
Reiz hat, aber es liegt ihr eine gewiſſe Unluſt an ſorgfältiger
Prüfung der Thatſachen und hiſtoriſcher Kritik zu Grunde,
und in ſo fern hat ſie ohne Zweifel dazu beigetragen, den
Blick für geſchichtliche Verhältniſſe zu trüben.
Endlich war die eigentliche Entwickelungsperiode des grie¬
chiſchen Geiſtes, in welcher ſich eine wiſſenſchaftlichere Ge¬
ſchichtsbetrachtung hätte ausbilden können, eine ſo tief und
vielfach bewegte, daß es dazu an Muße und Ruhe fehlte.
Man denke, was ſeit Anfang der Olympiaden auf engem
Raum in den zahlloſen Cantonen Griechenlands für eine gäh¬
rende Bewegung ſtattfand, da ſich die neuen Staaten auf den
Trümmern der alten gründeten und unter äußeren und inneren
Kämpfen ihre gegenſeitigen Verhältniſſe geſtalteten. In den
meiſten Staaten folgten raſche Umſchwünge auf einander, Um¬
ſturz des Fürſtenthums, Aufhebung der Geſchlechtsprivilegien,
Gewaltherrſchaften, die nach kurzem Glanze wieder anderen
bürgerlichen Ordnungen Platz machten. Da war ein volles,
den Aufgaben des Tages hingegebenes, von Parteien beweg¬
tes, nach allen Seiten angeregtes öffentliches Leben, und dieſe
Geſchäftigkeit bezog ſich nicht bloß auf die inneren Angelegen¬
heiten, auf Regierung und Geſetzgebung, auf Ausbildung der
Feſte, auf Gymnaſtik und Kunſt, ſondern es ging weit über
die Gränzen der Heimath hinaus; neue Seewege wurden ent¬
deckt, neue Handelsverbindungen angeknüpft, Pflanzſtädte an
allen Geſtaden des Meers gegründet. Je kleiner aber die
Gemeinden waren, um ſo unmittelbarer wurde Alles in die
raſtloſe Geſchäftigkeit mit herein gezogen; es war kein Stand
unbetheiligt, es blieb kein Platz ſtiller Beſchaulichkeit; man
hatte keine Zeit an die Vergangenheit zu denken; die Bewegung
war zu mächtig, um ſie überſehen und beherrſchen zu können;
man machte zu viel Geſchichte, um Geſchichte zu ſchreiben.
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