Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Das Mittleramt der Philologie. war, da traten die göttlichen Kräfte in das Menschenlebenhinein, und seit dem ersten Pfingstfeste wirkt ein Geist auf Erden, der unberechenbar in seiner Kraft die Menschen nicht mehr zurücksinken läßt in den Bann der Natur, in die Knecht¬ schaft des natürlichen Werdens und Vergehens. Seitdem ist also ein anderer Maßstab für die Geschichte da, weil ganz neue Factoren in dieselbe eingetreten sind. Menschen und Völker können wiedergeboren werden und die Bedeutung ihres Daseins hängt wesentlich davon ab, wie weit sie sich die dar¬ gebotenen Heilskräfte der übersinnlichen Welt aneignen. Ohne die Weihe zu verkennen, welche dadurch das Menschen¬ In dieser Beziehung glaube ich von einer Analogie reden Während nun die älteren Völker des Alterthums in jener Das Mittleramt der Philologie. war, da traten die göttlichen Kräfte in das Menſchenlebenhinein, und ſeit dem erſten Pfingſtfeſte wirkt ein Geiſt auf Erden, der unberechenbar in ſeiner Kraft die Menſchen nicht mehr zurückſinken läßt in den Bann der Natur, in die Knecht¬ ſchaft des natürlichen Werdens und Vergehens. Seitdem iſt alſo ein anderer Maßſtab für die Geſchichte da, weil ganz neue Factoren in dieſelbe eingetreten ſind. Menſchen und Völker können wiedergeboren werden und die Bedeutung ihres Daſeins hängt weſentlich davon ab, wie weit ſie ſich die dar¬ gebotenen Heilskräfte der überſinnlichen Welt aneignen. Ohne die Weihe zu verkennen, welche dadurch das Menſchen¬ In dieſer Beziehung glaube ich von einer Analogie reden Während nun die älteren Völker des Alterthums in jener <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0030" n="14"/><fw place="top" type="header">Das Mittleramt der Philologie.<lb/></fw>war, da traten die göttlichen Kräfte in das Menſchenleben<lb/> hinein, und ſeit dem erſten Pfingſtfeſte wirkt ein Geiſt auf<lb/> Erden, der unberechenbar in ſeiner Kraft die Menſchen nicht<lb/> mehr zurückſinken läßt in den Bann der Natur, in die Knecht¬<lb/> ſchaft des natürlichen Werdens und Vergehens. Seitdem iſt<lb/> alſo ein anderer Maßſtab für die Geſchichte da, weil ganz<lb/> neue Factoren in dieſelbe eingetreten ſind. Menſchen und<lb/> Völker können wiedergeboren werden und die Bedeutung ihres<lb/> Daſeins hängt weſentlich davon ab, wie weit ſie ſich die dar¬<lb/> gebotenen Heilskräfte der überſinnlichen Welt aneignen.</p><lb/> <p>Ohne die Weihe zu verkennen, welche dadurch das Menſchen¬<lb/> geſchlecht und ſeine Geſchichte empfangen hat, dürfen wir doch<lb/> behaupten, daß die vorchriſtliche Zeit ein ganz beſonderes<lb/> Intereſſe hat, indem ſie uns die Geſchichte in ihrer rein menſch¬<lb/> lichen Geſtalt vor Augen führt und weil die betrachtende Wiſſen¬<lb/> ſchaft ihr Ziel hier am vollſtändigſten erreichen kann. Derſelbe<lb/> Gott, der heute regiert, hat auch die alte Welt gelenkt, er hat<lb/> ſich auch ihr bezeugt und hat ſeinen Geiſt aufleuchten laſſen<lb/> in Sokrates und Plato, aber er hat die Völker ihre Wege<lb/> dahingehen laſſen, auf daß ſie in der verſchiedenſten Weiſe<lb/> zeigen ſollten, was aus natürlicher Kraft der Menſch vermöge.</p><lb/> <p>In dieſer Beziehung glaube ich von einer Analogie reden<lb/> zu dürfen, welche zwiſchen der Geſchichte der alten Völker und<lb/> der Naturkunde beſteht. Die Völker ſind Kinder ihres Landes.<lb/> Die Begabung des Bodens, die Beſchaffenheit der Atmoſphäre,<lb/> die Verhältniſſe der Temperatur, die Nähe oder Ferne des<lb/> Meeres, die Form der Küſte ſind maßgebende Bedingungen<lb/> der Volksgeſchichte. Ein Athen iſt nicht denkbar als an dem<lb/> Platze, wo es die Hellenen gegründet haben, nur in dieſer<lb/> Luft, auf dieſer Halbinſel, in der Nähe dieſer marmor- und<lb/> ſilberhaltigen Gebirge. Auch die Hauptplätze neuer Cultur<lb/> werden immer einen Theil ihrer Bedeutung der natürlichen<lb/> Lage verdanken, aber jeder Fortſchritt der Cultur iſt eine Be¬<lb/> freiung von dieſen Beſtimmungen, ein Zurückdrängen der na¬<lb/> türlichen Einflüſſe, eine Entfeſſelung des Geiſtes.</p><lb/> <p>Während nun die älteren Völker des Alterthums in jener<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [14/0030]
Das Mittleramt der Philologie.
war, da traten die göttlichen Kräfte in das Menſchenleben
hinein, und ſeit dem erſten Pfingſtfeſte wirkt ein Geiſt auf
Erden, der unberechenbar in ſeiner Kraft die Menſchen nicht
mehr zurückſinken läßt in den Bann der Natur, in die Knecht¬
ſchaft des natürlichen Werdens und Vergehens. Seitdem iſt
alſo ein anderer Maßſtab für die Geſchichte da, weil ganz
neue Factoren in dieſelbe eingetreten ſind. Menſchen und
Völker können wiedergeboren werden und die Bedeutung ihres
Daſeins hängt weſentlich davon ab, wie weit ſie ſich die dar¬
gebotenen Heilskräfte der überſinnlichen Welt aneignen.
Ohne die Weihe zu verkennen, welche dadurch das Menſchen¬
geſchlecht und ſeine Geſchichte empfangen hat, dürfen wir doch
behaupten, daß die vorchriſtliche Zeit ein ganz beſonderes
Intereſſe hat, indem ſie uns die Geſchichte in ihrer rein menſch¬
lichen Geſtalt vor Augen führt und weil die betrachtende Wiſſen¬
ſchaft ihr Ziel hier am vollſtändigſten erreichen kann. Derſelbe
Gott, der heute regiert, hat auch die alte Welt gelenkt, er hat
ſich auch ihr bezeugt und hat ſeinen Geiſt aufleuchten laſſen
in Sokrates und Plato, aber er hat die Völker ihre Wege
dahingehen laſſen, auf daß ſie in der verſchiedenſten Weiſe
zeigen ſollten, was aus natürlicher Kraft der Menſch vermöge.
In dieſer Beziehung glaube ich von einer Analogie reden
zu dürfen, welche zwiſchen der Geſchichte der alten Völker und
der Naturkunde beſteht. Die Völker ſind Kinder ihres Landes.
Die Begabung des Bodens, die Beſchaffenheit der Atmoſphäre,
die Verhältniſſe der Temperatur, die Nähe oder Ferne des
Meeres, die Form der Küſte ſind maßgebende Bedingungen
der Volksgeſchichte. Ein Athen iſt nicht denkbar als an dem
Platze, wo es die Hellenen gegründet haben, nur in dieſer
Luft, auf dieſer Halbinſel, in der Nähe dieſer marmor- und
ſilberhaltigen Gebirge. Auch die Hauptplätze neuer Cultur
werden immer einen Theil ihrer Bedeutung der natürlichen
Lage verdanken, aber jeder Fortſchritt der Cultur iſt eine Be¬
freiung von dieſen Beſtimmungen, ein Zurückdrängen der na¬
türlichen Einflüſſe, eine Entfeſſelung des Geiſtes.
Während nun die älteren Völker des Alterthums in jener
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