Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Philosophie und Geschichte. Stamm und Stadt darunter leiden, es wird der rastlose For¬schungstrieb und der scharfe Blick für die Mannigfaltigkeit der geschichtlichen Erscheinungen bei dieser Beobachtungsweise abgestumpft werden müssen. Deshalb sind andere Versuche gemacht worden, um nicht sowohl die Geschichte einem Systeme der Philosophie einzureihen, als vielmehr neue Methoden aus¬ findig zu machen, um sie aus ihrer Sonderstellung heraus und mit dem Gebiet der Naturwissenschaften in einen frucht¬ baren Zusammenhang zu bringen. Die Scheidung ist eine willkürliche und störende, schrieb Anders ist es, wenn man den Unterschied zwischen mathe¬ 19*
Philoſophie und Geſchichte. Stamm und Stadt darunter leiden, es wird der raſtlose For¬ſchungstrieb und der ſcharfe Blick für die Mannigfaltigkeit der geſchichtlichen Erſcheinungen bei dieſer Beobachtungsweiſe abgeſtumpft werden müſſen. Deshalb ſind andere Verſuche gemacht worden, um nicht ſowohl die Geſchichte einem Syſteme der Philoſophie einzureihen, als vielmehr neue Methoden aus¬ findig zu machen, um ſie aus ihrer Sonderſtellung heraus und mit dem Gebiet der Naturwiſſenſchaften in einen frucht¬ baren Zuſammenhang zu bringen. Die Scheidung iſt eine willkürliche und ſtörende, ſchrieb Anders iſt es, wenn man den Unterſchied zwiſchen mathe¬ 19*
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0307" n="291"/><fw place="top" type="header">Philoſophie und Geſchichte.<lb/></fw> Stamm und Stadt darunter leiden, es wird der raſtlose For¬<lb/> ſchungstrieb und der ſcharfe Blick für die Mannigfaltigkeit<lb/> der geſchichtlichen Erſcheinungen bei dieſer Beobachtungsweiſe<lb/> abgeſtumpft werden müſſen. Deshalb ſind andere Verſuche<lb/> gemacht worden, um nicht ſowohl die Geſchichte einem Syſteme<lb/> der Philoſophie einzureihen, als vielmehr neue Methoden aus¬<lb/> findig zu machen, um ſie aus ihrer Sonderſtellung heraus<lb/> und mit dem Gebiet der Naturwiſſenſchaften in einen frucht¬<lb/> baren Zuſammenhang zu bringen.</p><lb/> <p>Die Scheidung iſt eine willkürliche und ſtörende, ſchrieb<lb/> Renan, der ſelbſt nur zögernd von den Naturwiſſenſchaften<lb/> zum geſchichtlichen Studium übergegangen und bei dem glän¬<lb/> zenden Aufſchwunge der erſteren zuweilen an ſeinem Entſchluß<lb/> irre geworden war, in ſeinem berühmten Briefe an den Che¬<lb/> miker Berthelot. Die Naturwiſſenſchaften ſtellen zuſammen<lb/> eine große Entwickelungsgeſchichte dar, eine Reihe von Pe¬<lb/> rioden, deren letzte die Geſchichte des Menſchen iſt. Volle Er¬<lb/> kenntniß iſt nur im Ueberblick des Ganzen möglich. Die Natur¬<lb/> geſchichte von den Atomen beginnend, aus denen die Welt ent¬<lb/> ſteht, iſt nur die Vorgeſchichte der eigentlichen Geſchichte. Mit<lb/> liebenswürdigem Enthuſiasmus begrüßte unſer verſtorbener Ge¬<lb/> noſſe, der ehrwürdige Heinrich Ritter die kühnen Anſchauungen<lb/> des franzöſiſchen Gelehrten, den Verſuch einer neuen Reichs¬<lb/> ordnung im Gebiete der Wiſſenſchaften, und dieſen Grundſätzen<lb/> wird man im Schoße einer Akademie um ſo weniger wider¬<lb/> ſprechen wollen, da jedem der beiden großen Forſchungsgebiete<lb/> die ihm eigenthümliche Methode unverkümmert bleibt.</p><lb/> <p>Anders iſt es, wenn man den Unterſchied zwiſchen mathe¬<lb/> matiſch-phyſikaliſcher und hiſtoriſcher Forſchung beſeitigen, wenn<lb/> man die Methode der einen auf die andere übertragen und<lb/> der Geſchichtſchreibung dadurch eine neue Zukunft bereiten will,<lb/> daß man ſie in die Reihe der exakten Wiſſenſchaften einführt.<lb/> Das iſt die von engliſchen und franzöſiſchen Autoren energiſch<lb/> geforderte, auch bei uns von einigen Seiten ſehr beifällig auf¬<lb/> genommene Reform des hiſtoriſchen Studiums. Darnach ſollen<lb/> die Lehren vom Menſchen und von den Ordnungen in Staat<lb/> <fw place="bottom" type="sig">19*<lb/></fw> </p> </div> </body> </text> </TEI> [291/0307]
Philoſophie und Geſchichte.
Stamm und Stadt darunter leiden, es wird der raſtlose For¬
ſchungstrieb und der ſcharfe Blick für die Mannigfaltigkeit
der geſchichtlichen Erſcheinungen bei dieſer Beobachtungsweiſe
abgeſtumpft werden müſſen. Deshalb ſind andere Verſuche
gemacht worden, um nicht ſowohl die Geſchichte einem Syſteme
der Philoſophie einzureihen, als vielmehr neue Methoden aus¬
findig zu machen, um ſie aus ihrer Sonderſtellung heraus
und mit dem Gebiet der Naturwiſſenſchaften in einen frucht¬
baren Zuſammenhang zu bringen.
Die Scheidung iſt eine willkürliche und ſtörende, ſchrieb
Renan, der ſelbſt nur zögernd von den Naturwiſſenſchaften
zum geſchichtlichen Studium übergegangen und bei dem glän¬
zenden Aufſchwunge der erſteren zuweilen an ſeinem Entſchluß
irre geworden war, in ſeinem berühmten Briefe an den Che¬
miker Berthelot. Die Naturwiſſenſchaften ſtellen zuſammen
eine große Entwickelungsgeſchichte dar, eine Reihe von Pe¬
rioden, deren letzte die Geſchichte des Menſchen iſt. Volle Er¬
kenntniß iſt nur im Ueberblick des Ganzen möglich. Die Natur¬
geſchichte von den Atomen beginnend, aus denen die Welt ent¬
ſteht, iſt nur die Vorgeſchichte der eigentlichen Geſchichte. Mit
liebenswürdigem Enthuſiasmus begrüßte unſer verſtorbener Ge¬
noſſe, der ehrwürdige Heinrich Ritter die kühnen Anſchauungen
des franzöſiſchen Gelehrten, den Verſuch einer neuen Reichs¬
ordnung im Gebiete der Wiſſenſchaften, und dieſen Grundſätzen
wird man im Schoße einer Akademie um ſo weniger wider¬
ſprechen wollen, da jedem der beiden großen Forſchungsgebiete
die ihm eigenthümliche Methode unverkümmert bleibt.
Anders iſt es, wenn man den Unterſchied zwiſchen mathe¬
matiſch-phyſikaliſcher und hiſtoriſcher Forſchung beſeitigen, wenn
man die Methode der einen auf die andere übertragen und
der Geſchichtſchreibung dadurch eine neue Zukunft bereiten will,
daß man ſie in die Reihe der exakten Wiſſenſchaften einführt.
Das iſt die von engliſchen und franzöſiſchen Autoren energiſch
geforderte, auch bei uns von einigen Seiten ſehr beifällig auf¬
genommene Reform des hiſtoriſchen Studiums. Darnach ſollen
die Lehren vom Menſchen und von den Ordnungen in Staat
19*
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |