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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.
welche mit ewigen Ordnungen der Natur zusammenhängen
sollten. Man suchte in den Sternbildern des Himmels, wie
in den Büchern der Sibylle nach dem Ablaufe großer Welt¬
perioden, welcher eine Rückkehr der goldenen Zeit, eine Ver¬
jüngung und Wiedergeburt der Menschheit zur Folge haben
sollte. So verkündete Virgil den Anbruch eines neuen Sä¬
culums, und Octavian feierte es, als die Welt kriegsmüde
ihm zu Füßen sank, mit glänzenden Staatsfesten. Inzwischen
brach in aller Stille der neue Welttag wirklich an, das an¬
genehme Jahr des Herrn, aber die Christen, die es verkün¬
deten, erhielten zur Antwort, daß der Verheißung des Friedens
die Erfüllung fehle; ärger, als je zuvor, sehe es in der Welt
aus, und Orosius schrieb seine Weltgeschichte, um den Heiden
zu beweisen, daß die früheren Zeiten wenigstens nicht freier
von Noth und Elend gewesen seien.

So geht das Sehnen der Menschen durch ihre ganze Ge¬
schichte hindurch und ihre Klage tönt, leiser oder vernehmlicher,
aus allen Jahrhunderten uns entgegen. Wenn wir aber den¬
noch nicht umhin können, gute und schlechte Zeiten zu unter¬
scheiden, so denken wir nicht an das Glück des Einzelmenschen,
denn dieses beruht doch zuletzt auf der Harmonie des geistigen
Lebens, und wie unter den Wellen in aller Stille die Meeres¬
tiefe ruht, so kann auch in den trübsten Zeiten das Menschen¬
herz seines Friedens gewiß und darum glücklich sein. Eben
so wenig kann von dem Glücke der Völker, die zu einer Zeit
gelebt haben, im Allgemeinen die Rede sein, weil hier die
Ungleichartigkeit der Zustände jede gemeinsame Beurtheilung
unmöglich macht. Wir können also nur von einzelnen Völkern
und Staaten reden, und je mehr diese ein organisches Ge¬
sammtleben haben, um so mehr werden die einzelnen Glieder
Glück und Unglück des Ganzen theilen. Darum treten uns
auch in der alten Geschichte die verschiedenen Stufen des ge¬
meinsamen Wohlbefindens am deutlichsten entgegen, die Zeiten
der Dürre, der Ermattung, des Verfalls, und wiederum solche,
welche von frischem Lebensodem beseelt und von einer kraft¬
vollen Entwickelung erfüllt sind, wo das Volksleben gleichsam

Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.
welche mit ewigen Ordnungen der Natur zuſammenhängen
ſollten. Man ſuchte in den Sternbildern des Himmels, wie
in den Büchern der Sibylle nach dem Ablaufe großer Welt¬
perioden, welcher eine Rückkehr der goldenen Zeit, eine Ver¬
jüngung und Wiedergeburt der Menſchheit zur Folge haben
ſollte. So verkündete Virgil den Anbruch eines neuen Sä¬
culums, und Octavian feierte es, als die Welt kriegsmüde
ihm zu Füßen ſank, mit glänzenden Staatsfeſten. Inzwiſchen
brach in aller Stille der neue Welttag wirklich an, das an¬
genehme Jahr des Herrn, aber die Chriſten, die es verkün¬
deten, erhielten zur Antwort, daß der Verheißung des Friedens
die Erfüllung fehle; ärger, als je zuvor, ſehe es in der Welt
aus, und Oroſius ſchrieb ſeine Weltgeſchichte, um den Heiden
zu beweiſen, daß die früheren Zeiten wenigſtens nicht freier
von Noth und Elend geweſen ſeien.

So geht das Sehnen der Menſchen durch ihre ganze Ge¬
ſchichte hindurch und ihre Klage tönt, leiſer oder vernehmlicher,
aus allen Jahrhunderten uns entgegen. Wenn wir aber den¬
noch nicht umhin können, gute und ſchlechte Zeiten zu unter¬
ſcheiden, ſo denken wir nicht an das Glück des Einzelmenſchen,
denn dieſes beruht doch zuletzt auf der Harmonie des geiſtigen
Lebens, und wie unter den Wellen in aller Stille die Meeres¬
tiefe ruht, ſo kann auch in den trübſten Zeiten das Menſchen¬
herz ſeines Friedens gewiß und darum glücklich ſein. Eben
ſo wenig kann von dem Glücke der Völker, die zu einer Zeit
gelebt haben, im Allgemeinen die Rede ſein, weil hier die
Ungleichartigkeit der Zuſtände jede gemeinſame Beurtheilung
unmöglich macht. Wir können alſo nur von einzelnen Völkern
und Staaten reden, und je mehr dieſe ein organiſches Ge¬
ſammtleben haben, um ſo mehr werden die einzelnen Glieder
Glück und Unglück des Ganzen theilen. Darum treten uns
auch in der alten Geſchichte die verſchiedenen Stufen des ge¬
meinſamen Wohlbefindens am deutlichſten entgegen, die Zeiten
der Dürre, der Ermattung, des Verfalls, und wiederum ſolche,
welche von friſchem Lebensodem beſeelt und von einer kraft¬
vollen Entwickelung erfüllt ſind, wo das Volksleben gleichſam

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[302/0318] Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. welche mit ewigen Ordnungen der Natur zuſammenhängen ſollten. Man ſuchte in den Sternbildern des Himmels, wie in den Büchern der Sibylle nach dem Ablaufe großer Welt¬ perioden, welcher eine Rückkehr der goldenen Zeit, eine Ver¬ jüngung und Wiedergeburt der Menſchheit zur Folge haben ſollte. So verkündete Virgil den Anbruch eines neuen Sä¬ culums, und Octavian feierte es, als die Welt kriegsmüde ihm zu Füßen ſank, mit glänzenden Staatsfeſten. Inzwiſchen brach in aller Stille der neue Welttag wirklich an, das an¬ genehme Jahr des Herrn, aber die Chriſten, die es verkün¬ deten, erhielten zur Antwort, daß der Verheißung des Friedens die Erfüllung fehle; ärger, als je zuvor, ſehe es in der Welt aus, und Oroſius ſchrieb ſeine Weltgeſchichte, um den Heiden zu beweiſen, daß die früheren Zeiten wenigſtens nicht freier von Noth und Elend geweſen ſeien. So geht das Sehnen der Menſchen durch ihre ganze Ge¬ ſchichte hindurch und ihre Klage tönt, leiſer oder vernehmlicher, aus allen Jahrhunderten uns entgegen. Wenn wir aber den¬ noch nicht umhin können, gute und ſchlechte Zeiten zu unter¬ ſcheiden, ſo denken wir nicht an das Glück des Einzelmenſchen, denn dieſes beruht doch zuletzt auf der Harmonie des geiſtigen Lebens, und wie unter den Wellen in aller Stille die Meeres¬ tiefe ruht, ſo kann auch in den trübſten Zeiten das Menſchen¬ herz ſeines Friedens gewiß und darum glücklich ſein. Eben ſo wenig kann von dem Glücke der Völker, die zu einer Zeit gelebt haben, im Allgemeinen die Rede ſein, weil hier die Ungleichartigkeit der Zuſtände jede gemeinſame Beurtheilung unmöglich macht. Wir können alſo nur von einzelnen Völkern und Staaten reden, und je mehr dieſe ein organiſches Ge¬ ſammtleben haben, um ſo mehr werden die einzelnen Glieder Glück und Unglück des Ganzen theilen. Darum treten uns auch in der alten Geſchichte die verſchiedenen Stufen des ge¬ meinſamen Wohlbefindens am deutlichſten entgegen, die Zeiten der Dürre, der Ermattung, des Verfalls, und wiederum ſolche, welche von friſchem Lebensodem beſeelt und von einer kraft¬ vollen Entwickelung erfüllt ſind, wo das Volksleben gleichſam

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/318>, abgerufen am 23.11.2024.