Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. Staate vereinigt, und zwar in einem Staate, der das glück¬lichste Maß der Größe hatte, nicht gefährdet durch eine zu große Kopfzahl, welche den Staat schwächt anstatt ihn zu stärken, indem sie Unordnungen hervorruft und die klare Ueber¬ sichtlichkeit unmöglich macht, wie sie den republikanischen Ge¬ meinden des Alterthums unentbehrlich war; andrerseits aber auch nicht an abnehmender Bürgerzahl leidend, wie Sparta, dessen Leitung dadurch mehr und mehr in die Hände eines sich verengernden Familienkreises gerieth, sondern eine voll¬ kräftig blühende Bürgergemeinde, deren Gesundheit auf Mäßig¬ keit und gymnastischer Uebung beruhte, ein Bürgerstaat, der es durch Fleiß und Klugheit zu einem allseitigen Wohlstande ge¬ bracht hatte, selbstgenugsam in Krieg und Frieden, durch seine Mauern dem Feinde unnahbar und durch seine Flotte im Stande allen Mächten am Mittelmeere die Spitze zu bieten, ein Staat, an welchen sich eine große Menge gewerbthätiger Insassen angeschlossen hatte, die dem Staate, dessen Schutz sie genossen, mit Treue anhingen, ein Staat endlich, der reich an Sklaven war, welche dem Bürger die niederen Arbeiten abnahmen und ihm die zur Entwickelung bürgerlicher Tugen¬ den unentbehrliche Muße verschafften, ohne daß sie, wie die Heloten, eine feindlich lauernde und staatsgefährliche Menge bildeten. Unter diesen Umständen kam es nur darauf an, daß die Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. Staate vereinigt, und zwar in einem Staate, der das glück¬lichſte Maß der Größe hatte, nicht gefährdet durch eine zu große Kopfzahl, welche den Staat ſchwächt anſtatt ihn zu ſtärken, indem ſie Unordnungen hervorruft und die klare Ueber¬ ſichtlichkeit unmöglich macht, wie ſie den republikaniſchen Ge¬ meinden des Alterthums unentbehrlich war; andrerſeits aber auch nicht an abnehmender Bürgerzahl leidend, wie Sparta, deſſen Leitung dadurch mehr und mehr in die Hände eines ſich verengernden Familienkreiſes gerieth, ſondern eine voll¬ kräftig blühende Bürgergemeinde, deren Geſundheit auf Mäßig¬ keit und gymnaſtiſcher Uebung beruhte, ein Bürgerſtaat, der es durch Fleiß und Klugheit zu einem allſeitigen Wohlſtande ge¬ bracht hatte, ſelbſtgenugſam in Krieg und Frieden, durch ſeine Mauern dem Feinde unnahbar und durch ſeine Flotte im Stande allen Mächten am Mittelmeere die Spitze zu bieten, ein Staat, an welchen ſich eine große Menge gewerbthätiger Inſaſſen angeſchloſſen hatte, die dem Staate, deſſen Schutz ſie genoſſen, mit Treue anhingen, ein Staat endlich, der reich an Sklaven war, welche dem Bürger die niederen Arbeiten abnahmen und ihm die zur Entwickelung bürgerlicher Tugen¬ den unentbehrliche Muße verſchafften, ohne daß ſie, wie die Heloten, eine feindlich lauernde und ſtaatsgefährliche Menge bildeten. Unter dieſen Umſtänden kam es nur darauf an, daß die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0322" n="306"/><fw place="top" type="header">Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.<lb/></fw> Staate vereinigt, und zwar in einem Staate, der das glück¬<lb/> lichſte Maß der Größe hatte, nicht gefährdet durch eine zu<lb/> große Kopfzahl, welche den Staat ſchwächt anſtatt ihn zu<lb/> ſtärken, indem ſie Unordnungen hervorruft und die klare Ueber¬<lb/> ſichtlichkeit unmöglich macht, wie ſie den republikaniſchen Ge¬<lb/> meinden des Alterthums unentbehrlich war; andrerſeits aber<lb/> auch nicht an abnehmender Bürgerzahl leidend, wie Sparta,<lb/> deſſen Leitung dadurch mehr und mehr in die Hände eines<lb/> ſich verengernden Familienkreiſes gerieth, ſondern eine voll¬<lb/> kräftig blühende Bürgergemeinde, deren Geſundheit auf Mäßig¬<lb/> keit und gymnaſtiſcher Uebung beruhte, ein Bürgerſtaat, der es<lb/> durch Fleiß und Klugheit zu einem allſeitigen Wohlſtande ge¬<lb/> bracht hatte, ſelbſtgenugſam in Krieg und Frieden, durch ſeine<lb/> Mauern dem Feinde unnahbar und durch ſeine Flotte im<lb/> Stande allen Mächten am Mittelmeere die Spitze zu bieten,<lb/> ein Staat, an welchen ſich eine große Menge gewerbthätiger<lb/> Inſaſſen angeſchloſſen hatte, die dem Staate, deſſen Schutz<lb/> ſie genoſſen, mit Treue anhingen, ein Staat endlich, der reich<lb/> an Sklaven war, welche dem Bürger die niederen Arbeiten<lb/> abnahmen und ihm die zur Entwickelung bürgerlicher Tugen¬<lb/> den unentbehrliche Muße verſchafften, ohne daß ſie, wie die<lb/> Heloten, eine feindlich lauernde und ſtaatsgefährliche Menge<lb/> bildeten.</p><lb/> <p>Unter dieſen Umſtänden kam es nur darauf an, daß die<lb/> in Athen vorhandenen Kräfte, die geübten und bewährten ſo¬<lb/> wohl wie die neu angeregten und ihrer Entwickelung harren¬<lb/> den, zu einem feſten und klar erkannten Ziele geleitet wurden,<lb/> damit ſie nicht etwa zerſtörend oder hemmend einander ent¬<lb/> gegenwirkten. Eines feſten Ziels bedarf ja zu ſeinem Heile<lb/> der Staat ſo wohl wie der einzelne Menſch; denn glücklich<lb/> kann nur der ſein, welcher weiß, was er will. Die Entſchie¬<lb/> denheit des Willens verdoppelt unſere Kraft und iſt die Quelle<lb/> jeder freudigen Gemüthsſtimmung. Darum halten wir einen<lb/> gewiſſen Geiſt für unſer beſtes Gut, darum betrachten wir<lb/> mit Vorliebe das Leben ſolcher Männer, welche ganz dahin<lb/> gegeben waren an die Macht einer Idee, und vertiefen uns<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [306/0322]
Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.
Staate vereinigt, und zwar in einem Staate, der das glück¬
lichſte Maß der Größe hatte, nicht gefährdet durch eine zu
große Kopfzahl, welche den Staat ſchwächt anſtatt ihn zu
ſtärken, indem ſie Unordnungen hervorruft und die klare Ueber¬
ſichtlichkeit unmöglich macht, wie ſie den republikaniſchen Ge¬
meinden des Alterthums unentbehrlich war; andrerſeits aber
auch nicht an abnehmender Bürgerzahl leidend, wie Sparta,
deſſen Leitung dadurch mehr und mehr in die Hände eines
ſich verengernden Familienkreiſes gerieth, ſondern eine voll¬
kräftig blühende Bürgergemeinde, deren Geſundheit auf Mäßig¬
keit und gymnaſtiſcher Uebung beruhte, ein Bürgerſtaat, der es
durch Fleiß und Klugheit zu einem allſeitigen Wohlſtande ge¬
bracht hatte, ſelbſtgenugſam in Krieg und Frieden, durch ſeine
Mauern dem Feinde unnahbar und durch ſeine Flotte im
Stande allen Mächten am Mittelmeere die Spitze zu bieten,
ein Staat, an welchen ſich eine große Menge gewerbthätiger
Inſaſſen angeſchloſſen hatte, die dem Staate, deſſen Schutz
ſie genoſſen, mit Treue anhingen, ein Staat endlich, der reich
an Sklaven war, welche dem Bürger die niederen Arbeiten
abnahmen und ihm die zur Entwickelung bürgerlicher Tugen¬
den unentbehrliche Muße verſchafften, ohne daß ſie, wie die
Heloten, eine feindlich lauernde und ſtaatsgefährliche Menge
bildeten.
Unter dieſen Umſtänden kam es nur darauf an, daß die
in Athen vorhandenen Kräfte, die geübten und bewährten ſo¬
wohl wie die neu angeregten und ihrer Entwickelung harren¬
den, zu einem feſten und klar erkannten Ziele geleitet wurden,
damit ſie nicht etwa zerſtörend oder hemmend einander ent¬
gegenwirkten. Eines feſten Ziels bedarf ja zu ſeinem Heile
der Staat ſo wohl wie der einzelne Menſch; denn glücklich
kann nur der ſein, welcher weiß, was er will. Die Entſchie¬
denheit des Willens verdoppelt unſere Kraft und iſt die Quelle
jeder freudigen Gemüthsſtimmung. Darum halten wir einen
gewiſſen Geiſt für unſer beſtes Gut, darum betrachten wir
mit Vorliebe das Leben ſolcher Männer, welche ganz dahin
gegeben waren an die Macht einer Idee, und vertiefen uns
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