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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.
leiteten Entwickelung, sondern allgemeiner Entwickelungsge¬
setze, denen keine Macht des Geistes die alten Staaten ent¬
ziehen konnte, und dazu kamen Unfälle von unberechenbarer
und unwiderstehlicher Beschaffenheit, welche den Kern der Bür¬
gerschaft zerstörten. Und sollte Perikles, wenn er die kurze
Dauer der Größe Athens voraussah, etwa anders gehandelt
haben? Sollen wir die Energie unsers Strebens nach der
muthmaßlichen Dauer des Erfolgs abmessen, dann wäre De¬
mosthenes ein Thor und Verbrecher gewesen, dann würde von
Heldensinn und Heldenthat in der Geschichte nicht mehr die
Rede sein.

Und war denn nach Perikles' Tode auf einmal Alles vor¬
bei? Wer wagt das zu behaupten? Freilich verstimmten
sich bald die Saiten, die Harmonie trübte sich; niedere Rich¬
tungen gewannen die Oberhand. Aber der Segen, der jeder
großen Zeit folgt, blieb auch hier nicht aus. Die perikleischen
Denkmäler blieben der beste Schatz der Stadt für alle Jahr¬
hunderte; Athen blieb auch ohne Perikles unüberwindlich, so
lange es den Grundsätzen seiner Politik folgte; es blieb der
heimathliche Herd aller höheren Richtungen des hellenischen
Geistes, und so lange noch Lebenskräfte vorhanden waren,
haben die Athener im Andenken an jene große Zeit immer
sich selbst wiedergefunden.

Eines freilich kehrte niemals wieder. Das war die Uni¬
versalität des griechischen Geistes, wie sie sich in Perikles dar¬
gestellt hat. Große Feldherren, Staatsmänner, Philosophen
und Redner hat Griechenland noch in bedeutender Anzahl
hervorgebracht, und mit der Trennung der verschiedenen Rich¬
tungen wurde in den einzelnen Fächern sogar eine größere
Meisterschaft erreichbar. Er aber war, wie der Erste, so auch
der Letzte, der alle Kräfte des griechischen Geistes harmonisch
in sich entfaltete und an dem entscheidenden Wendepunkte der
nationalen Entwickelung den Besitz der Vorzeit mit dem Ge¬
winn der Neuzeit zu verbinden wußte, ein Altathener zugleich
und ein Ionier, dem Herkommen treu und ein Führer der
Bewegung. Auch die Macht weiblicher Bildung hat er zuerst

Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens.
leiteten Entwickelung, ſondern allgemeiner Entwickelungsge¬
ſetze, denen keine Macht des Geiſtes die alten Staaten ent¬
ziehen konnte, und dazu kamen Unfälle von unberechenbarer
und unwiderſtehlicher Beſchaffenheit, welche den Kern der Bür¬
gerſchaft zerſtörten. Und ſollte Perikles, wenn er die kurze
Dauer der Größe Athens vorausſah, etwa anders gehandelt
haben? Sollen wir die Energie unſers Strebens nach der
muthmaßlichen Dauer des Erfolgs abmeſſen, dann wäre De¬
moſthenes ein Thor und Verbrecher geweſen, dann würde von
Heldenſinn und Heldenthat in der Geſchichte nicht mehr die
Rede ſein.

Und war denn nach Perikles' Tode auf einmal Alles vor¬
bei? Wer wagt das zu behaupten? Freilich verſtimmten
ſich bald die Saiten, die Harmonie trübte ſich; niedere Rich¬
tungen gewannen die Oberhand. Aber der Segen, der jeder
großen Zeit folgt, blieb auch hier nicht aus. Die perikleiſchen
Denkmäler blieben der beſte Schatz der Stadt für alle Jahr¬
hunderte; Athen blieb auch ohne Perikles unüberwindlich, ſo
lange es den Grundſätzen ſeiner Politik folgte; es blieb der
heimathliche Herd aller höheren Richtungen des helleniſchen
Geiſtes, und ſo lange noch Lebenskräfte vorhanden waren,
haben die Athener im Andenken an jene große Zeit immer
ſich ſelbſt wiedergefunden.

Eines freilich kehrte niemals wieder. Das war die Uni¬
verſalität des griechiſchen Geiſtes, wie ſie ſich in Perikles dar¬
geſtellt hat. Große Feldherren, Staatsmänner, Philoſophen
und Redner hat Griechenland noch in bedeutender Anzahl
hervorgebracht, und mit der Trennung der verſchiedenen Rich¬
tungen wurde in den einzelnen Fächern ſogar eine größere
Meiſterſchaft erreichbar. Er aber war, wie der Erſte, ſo auch
der Letzte, der alle Kräfte des griechiſchen Geiſtes harmoniſch
in ſich entfaltete und an dem entſcheidenden Wendepunkte der
nationalen Entwickelung den Beſitz der Vorzeit mit dem Ge¬
winn der Neuzeit zu verbinden wußte, ein Altathener zugleich
und ein Ionier, dem Herkommen treu und ein Führer der
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[318/0334] Die Bedingungen eines glücklichen Staatslebens. leiteten Entwickelung, ſondern allgemeiner Entwickelungsge¬ ſetze, denen keine Macht des Geiſtes die alten Staaten ent¬ ziehen konnte, und dazu kamen Unfälle von unberechenbarer und unwiderſtehlicher Beſchaffenheit, welche den Kern der Bür¬ gerſchaft zerſtörten. Und ſollte Perikles, wenn er die kurze Dauer der Größe Athens vorausſah, etwa anders gehandelt haben? Sollen wir die Energie unſers Strebens nach der muthmaßlichen Dauer des Erfolgs abmeſſen, dann wäre De¬ moſthenes ein Thor und Verbrecher geweſen, dann würde von Heldenſinn und Heldenthat in der Geſchichte nicht mehr die Rede ſein. Und war denn nach Perikles' Tode auf einmal Alles vor¬ bei? Wer wagt das zu behaupten? Freilich verſtimmten ſich bald die Saiten, die Harmonie trübte ſich; niedere Rich¬ tungen gewannen die Oberhand. Aber der Segen, der jeder großen Zeit folgt, blieb auch hier nicht aus. Die perikleiſchen Denkmäler blieben der beſte Schatz der Stadt für alle Jahr¬ hunderte; Athen blieb auch ohne Perikles unüberwindlich, ſo lange es den Grundſätzen ſeiner Politik folgte; es blieb der heimathliche Herd aller höheren Richtungen des helleniſchen Geiſtes, und ſo lange noch Lebenskräfte vorhanden waren, haben die Athener im Andenken an jene große Zeit immer ſich ſelbſt wiedergefunden. Eines freilich kehrte niemals wieder. Das war die Uni¬ verſalität des griechiſchen Geiſtes, wie ſie ſich in Perikles dar¬ geſtellt hat. Große Feldherren, Staatsmänner, Philoſophen und Redner hat Griechenland noch in bedeutender Anzahl hervorgebracht, und mit der Trennung der verſchiedenen Rich¬ tungen wurde in den einzelnen Fächern ſogar eine größere Meiſterſchaft erreichbar. Er aber war, wie der Erſte, ſo auch der Letzte, der alle Kräfte des griechiſchen Geiſtes harmoniſch in ſich entfaltete und an dem entſcheidenden Wendepunkte der nationalen Entwickelung den Beſitz der Vorzeit mit dem Ge¬ winn der Neuzeit zu verbinden wußte, ein Altathener zugleich und ein Ionier, dem Herkommen treu und ein Führer der Bewegung. Auch die Macht weiblicher Bildung hat er zuerſt

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/334>, abgerufen am 23.11.2024.