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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die patriotische Pflicht der Parteinahme.
entwickelt, je mehr der Geist der Freiheit, der Gerechtigkeit, des
Gemeinsinns ihn durchdringt, um so mehr wird der Kampf
der Parteien eine Uebungsschule aller geistigen Lebenskräfte
sein. Er fördert das Ganze, indem er durch offenen Gegen¬
satz der Meinungen Vorurtheile beseitigt so wie vor Einseitig¬
keit und Irrwegen bewahrt; er fördert den Einzelnen, indem
er ihn nöthigt, in Wort und That eine wohlgeprüfte Meinung
muthig zu vertreten.

Das ist der wohlthätige Antagonismus der Partei, die
sicherste Bürgschaft des Fortschritts und einer gedeihlichen Zu¬
kunft. Er trennt nicht nur, sondern er verbindet auch; er
steigert die persönliche Theilnahme am Wohle des Staats, für
welchen Alles wetteifernd bemüht ist. Die Parteikämpfe sind
die Wehen, welche neuen Entwickelungen vorangehen; nach
angstvoller Spannung der Gemüther folgt eine höhere Gewi߬
heit und der Staat wird Allen um so theurer, je mehr um
ihn gebangt, gestritten und gearbeitet worden ist. Aus jeder
Krisis geht er reicher und voller hervor. Einem Parteisiege
verdankte Athen den Schmuck seiner Tempel; aus den Partei¬
kämpfen gingen die Colonien hervor, welche die Herrschaft der
Griechen über alle Mittelmeerküsten ausdehnten; Beredsamkeit
und dialektische Methode sind Früchte des Parteikampfes; aus
ihm sind endlich die höchsten Kunstwerke des Geistes entsprungen,
die noch heute vorbildlichen Gesetzgebungen, in denen der flu¬
thenden Bewegung Maß und Form gegeben ist. Wahrlich,
wenn wir die arme Geschichte parteiloser Staaten mit der
überreichen Culturentwickelung einer Stadt vergleichen, welche,
wie Athen, von einem Parteikampfe zum anderen überging:
dann begreifen wir das große Wort des Herakleitos, welcher
den Kampf den Vater der Dinge nannte und des kurzsichtigen
Dichters spottete, der den Wunsch ausgesprochen habe, daß doch
aller Streit zwischen Göttern und Menschen ein Ende nehmen
möchte.

Aber es giebt neben dem guten Streite auch einen bösen;
beide trennt eine feine Gränzlinie, und wenn uns die Geschichte
lehrt, daß durch Parteikampf die Staaten groß geworden sind,

Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme.
entwickelt, je mehr der Geiſt der Freiheit, der Gerechtigkeit, des
Gemeinſinns ihn durchdringt, um ſo mehr wird der Kampf
der Parteien eine Uebungsſchule aller geiſtigen Lebenskräfte
ſein. Er fördert das Ganze, indem er durch offenen Gegen¬
ſatz der Meinungen Vorurtheile beſeitigt ſo wie vor Einſeitig¬
keit und Irrwegen bewahrt; er fördert den Einzelnen, indem
er ihn nöthigt, in Wort und That eine wohlgeprüfte Meinung
muthig zu vertreten.

Das iſt der wohlthätige Antagonismus der Partei, die
ſicherſte Bürgſchaft des Fortſchritts und einer gedeihlichen Zu¬
kunft. Er trennt nicht nur, ſondern er verbindet auch; er
ſteigert die perſönliche Theilnahme am Wohle des Staats, für
welchen Alles wetteifernd bemüht iſt. Die Parteikämpfe ſind
die Wehen, welche neuen Entwickelungen vorangehen; nach
angſtvoller Spannung der Gemüther folgt eine höhere Gewi߬
heit und der Staat wird Allen um ſo theurer, je mehr um
ihn gebangt, geſtritten und gearbeitet worden iſt. Aus jeder
Kriſis geht er reicher und voller hervor. Einem Parteiſiege
verdankte Athen den Schmuck ſeiner Tempel; aus den Partei¬
kämpfen gingen die Colonien hervor, welche die Herrſchaft der
Griechen über alle Mittelmeerküſten ausdehnten; Beredſamkeit
und dialektiſche Methode ſind Früchte des Parteikampfes; aus
ihm ſind endlich die höchſten Kunſtwerke des Geiſtes entſprungen,
die noch heute vorbildlichen Geſetzgebungen, in denen der flu¬
thenden Bewegung Maß und Form gegeben iſt. Wahrlich,
wenn wir die arme Geſchichte parteiloſer Staaten mit der
überreichen Culturentwickelung einer Stadt vergleichen, welche,
wie Athen, von einem Parteikampfe zum anderen überging:
dann begreifen wir das große Wort des Herakleitos, welcher
den Kampf den Vater der Dinge nannte und des kurzſichtigen
Dichters ſpottete, der den Wunſch ausgeſprochen habe, daß doch
aller Streit zwiſchen Göttern und Menſchen ein Ende nehmen
möchte.

Aber es giebt neben dem guten Streite auch einen böſen;
beide trennt eine feine Gränzlinie, und wenn uns die Geſchichte
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[326/0342] Die patriotiſche Pflicht der Parteinahme. entwickelt, je mehr der Geiſt der Freiheit, der Gerechtigkeit, des Gemeinſinns ihn durchdringt, um ſo mehr wird der Kampf der Parteien eine Uebungsſchule aller geiſtigen Lebenskräfte ſein. Er fördert das Ganze, indem er durch offenen Gegen¬ ſatz der Meinungen Vorurtheile beſeitigt ſo wie vor Einſeitig¬ keit und Irrwegen bewahrt; er fördert den Einzelnen, indem er ihn nöthigt, in Wort und That eine wohlgeprüfte Meinung muthig zu vertreten. Das iſt der wohlthätige Antagonismus der Partei, die ſicherſte Bürgſchaft des Fortſchritts und einer gedeihlichen Zu¬ kunft. Er trennt nicht nur, ſondern er verbindet auch; er ſteigert die perſönliche Theilnahme am Wohle des Staats, für welchen Alles wetteifernd bemüht iſt. Die Parteikämpfe ſind die Wehen, welche neuen Entwickelungen vorangehen; nach angſtvoller Spannung der Gemüther folgt eine höhere Gewi߬ heit und der Staat wird Allen um ſo theurer, je mehr um ihn gebangt, geſtritten und gearbeitet worden iſt. Aus jeder Kriſis geht er reicher und voller hervor. Einem Parteiſiege verdankte Athen den Schmuck ſeiner Tempel; aus den Partei¬ kämpfen gingen die Colonien hervor, welche die Herrſchaft der Griechen über alle Mittelmeerküſten ausdehnten; Beredſamkeit und dialektiſche Methode ſind Früchte des Parteikampfes; aus ihm ſind endlich die höchſten Kunſtwerke des Geiſtes entſprungen, die noch heute vorbildlichen Geſetzgebungen, in denen der flu¬ thenden Bewegung Maß und Form gegeben iſt. Wahrlich, wenn wir die arme Geſchichte parteiloſer Staaten mit der überreichen Culturentwickelung einer Stadt vergleichen, welche, wie Athen, von einem Parteikampfe zum anderen überging: dann begreifen wir das große Wort des Herakleitos, welcher den Kampf den Vater der Dinge nannte und des kurzſichtigen Dichters ſpottete, der den Wunſch ausgeſprochen habe, daß doch aller Streit zwiſchen Göttern und Menſchen ein Ende nehmen möchte. Aber es giebt neben dem guten Streite auch einen böſen; beide trennt eine feine Gränzlinie, und wenn uns die Geſchichte lehrt, daß durch Parteikampf die Staaten groß geworden ſind,

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/342>, abgerufen am 23.11.2024.