Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite
XXII.
Große und kleine Städte.

Von allen Universitäten des Vaterlandes ist die unsrige
vorzugsweise berufen, den heutigen Tag freudig und dankbar
zu begehen, nicht nur weil das Auge des Königs unmittelbar auf
uns gerichtet ist, sondern auch deshalb, weil die Blüthe unserer
Universität mit der des Staats auf das Genauste zusammen¬
hängt. Denn je mehr mit dem Ansehen des Staats auch das
der Hauptstadt im Steigen ist und je mehr die Deutschen sich
gewöhnen, von hier die Entscheidung ihrer wichtigsten An¬
gelegenheiten zu erwarten, um so mehr wird auch die Jugend
sich angezogen fühlen und den großen Entwickelungen, welche
sich hier vollziehen, eine Zeitlang nahe zu sein wünschen.
Wir sehen aber der steigenden Bedeutung der Hauptstadt und
ihrem Wachsthum nicht mit ungemischten Empfindungen zu; es
beschleicht uns vielmehr ein unheimliches Gefühl, wenn unsere
Stadt wie nach einer unaufhaltsamen Naturnothwendigkeit
immer mächtiger anschwillt. Wohin soll das führen, fragen
wir, und wie weit entspricht das großstädtische Leben den
geistigen Interessen? Darüber hören wir auch in unseren
Kreisen sehr verschieden urtheilen.

Die Einen nennen dasselbe eine Verwöhnung, welche es
unmöglich mache, sich jemals wieder in engere Kreise einzu¬
leben, die Anderen sehen darin eine Reihe von Entbehrungen,
die sich schwer ertragen. Daher finden wir auf der einen

Curtius, Alterthum. 24
XXII.
Große und kleine Städte.

Von allen Univerſitäten des Vaterlandes iſt die unſrige
vorzugsweiſe berufen, den heutigen Tag freudig und dankbar
zu begehen, nicht nur weil das Auge des Königs unmittelbar auf
uns gerichtet iſt, ſondern auch deshalb, weil die Blüthe unſerer
Univerſität mit der des Staats auf das Genauſte zuſammen¬
hängt. Denn je mehr mit dem Anſehen des Staats auch das
der Hauptſtadt im Steigen iſt und je mehr die Deutſchen ſich
gewöhnen, von hier die Entſcheidung ihrer wichtigſten An¬
gelegenheiten zu erwarten, um ſo mehr wird auch die Jugend
ſich angezogen fühlen und den großen Entwickelungen, welche
ſich hier vollziehen, eine Zeitlang nahe zu ſein wünſchen.
Wir ſehen aber der ſteigenden Bedeutung der Hauptſtadt und
ihrem Wachsthum nicht mit ungemiſchten Empfindungen zu; es
beſchleicht uns vielmehr ein unheimliches Gefühl, wenn unſere
Stadt wie nach einer unaufhaltſamen Naturnothwendigkeit
immer mächtiger anſchwillt. Wohin ſoll das führen, fragen
wir, und wie weit entſpricht das großſtädtiſche Leben den
geiſtigen Intereſſen? Darüber hören wir auch in unſeren
Kreiſen ſehr verſchieden urtheilen.

Die Einen nennen daſſelbe eine Verwöhnung, welche es
unmöglich mache, ſich jemals wieder in engere Kreiſe einzu¬
leben, die Anderen ſehen darin eine Reihe von Entbehrungen,
die ſich ſchwer ertragen. Daher finden wir auf der einen

Curtius, Alterthum. 24
<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0385"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#aq">XXII.</hi><lb/> <hi rendition="#b">Große und kleine Städte.</hi><lb/>
        </head>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p>Von allen Univer&#x017F;itäten des Vaterlandes i&#x017F;t die un&#x017F;rige<lb/>
vorzugswei&#x017F;e berufen, den heutigen Tag freudig und dankbar<lb/>
zu begehen, nicht nur weil das Auge des Königs unmittelbar auf<lb/>
uns gerichtet i&#x017F;t, &#x017F;ondern auch deshalb, weil die Blüthe un&#x017F;erer<lb/>
Univer&#x017F;ität mit der des Staats auf das Genau&#x017F;te zu&#x017F;ammen¬<lb/>
hängt. Denn je mehr mit dem An&#x017F;ehen des Staats auch das<lb/>
der Haupt&#x017F;tadt im Steigen i&#x017F;t und je mehr die Deut&#x017F;chen &#x017F;ich<lb/>
gewöhnen, von hier die Ent&#x017F;cheidung ihrer wichtig&#x017F;ten An¬<lb/>
gelegenheiten zu erwarten, um &#x017F;o mehr wird auch die Jugend<lb/>
&#x017F;ich angezogen fühlen und den großen Entwickelungen, welche<lb/>
&#x017F;ich hier vollziehen, eine Zeitlang nahe zu &#x017F;ein wün&#x017F;chen.<lb/>
Wir &#x017F;ehen aber der &#x017F;teigenden Bedeutung der Haupt&#x017F;tadt und<lb/>
ihrem Wachsthum nicht mit ungemi&#x017F;chten Empfindungen zu; es<lb/>
be&#x017F;chleicht uns vielmehr ein unheimliches Gefühl, wenn un&#x017F;ere<lb/>
Stadt wie nach einer unaufhalt&#x017F;amen Naturnothwendigkeit<lb/>
immer mächtiger an&#x017F;chwillt. Wohin &#x017F;oll das führen, fragen<lb/>
wir, und wie weit ent&#x017F;pricht das groß&#x017F;tädti&#x017F;che Leben den<lb/>
gei&#x017F;tigen Intere&#x017F;&#x017F;en? Darüber hören wir auch in un&#x017F;eren<lb/>
Krei&#x017F;en &#x017F;ehr ver&#x017F;chieden urtheilen.</p><lb/>
        <p>Die Einen nennen da&#x017F;&#x017F;elbe eine Verwöhnung, welche es<lb/>
unmöglich mache, &#x017F;ich jemals wieder in engere Krei&#x017F;e einzu¬<lb/>
leben, die Anderen &#x017F;ehen darin eine Reihe von Entbehrungen,<lb/>
die &#x017F;ich &#x017F;chwer ertragen. Daher finden wir auf der einen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Curtius</hi>, Alterthum. 24<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0385] XXII. Große und kleine Städte. Von allen Univerſitäten des Vaterlandes iſt die unſrige vorzugsweiſe berufen, den heutigen Tag freudig und dankbar zu begehen, nicht nur weil das Auge des Königs unmittelbar auf uns gerichtet iſt, ſondern auch deshalb, weil die Blüthe unſerer Univerſität mit der des Staats auf das Genauſte zuſammen¬ hängt. Denn je mehr mit dem Anſehen des Staats auch das der Hauptſtadt im Steigen iſt und je mehr die Deutſchen ſich gewöhnen, von hier die Entſcheidung ihrer wichtigſten An¬ gelegenheiten zu erwarten, um ſo mehr wird auch die Jugend ſich angezogen fühlen und den großen Entwickelungen, welche ſich hier vollziehen, eine Zeitlang nahe zu ſein wünſchen. Wir ſehen aber der ſteigenden Bedeutung der Hauptſtadt und ihrem Wachsthum nicht mit ungemiſchten Empfindungen zu; es beſchleicht uns vielmehr ein unheimliches Gefühl, wenn unſere Stadt wie nach einer unaufhaltſamen Naturnothwendigkeit immer mächtiger anſchwillt. Wohin ſoll das führen, fragen wir, und wie weit entſpricht das großſtädtiſche Leben den geiſtigen Intereſſen? Darüber hören wir auch in unſeren Kreiſen ſehr verſchieden urtheilen. Die Einen nennen daſſelbe eine Verwöhnung, welche es unmöglich mache, ſich jemals wieder in engere Kreiſe einzu¬ leben, die Anderen ſehen darin eine Reihe von Entbehrungen, die ſich ſchwer ertragen. Daher finden wir auf der einen Curtius, Alterthum. 24

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/385
Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/385>, abgerufen am 23.11.2024.