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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Große und kleine Städte.
doppelte war das Kennzeichen einer Großstadt und als Athen
auf das Dreifache stieg, ging es schon über das Maß hinaus.
Auch in Betreff des Stadtumfangs hatte man gewisse Normen;
denn es kann doch nicht zufällig sein, daß für drei Städte,
Theben, Athen und das schon unter König Servius stark hel¬
lenisirte Rom, dieselbe Zahl von Stadien, 43, als Maß des
Mauerrings angeführt wird. So ängstlich sorgte man für
die Begränzung von Raum und Zahl.

Wie die Hellenen verfuhren, erkennt man am deutlichsten
in den Colonialländern. Da wurde z. B. am campanischen
Golfe zuerst Kyme gegründet, dann, als die Stadt voll war,
eine Meile davon Puteoli, dann weiter in derselben Richtung
das erste Neapolis und als auch dies sein Maß erreicht hatte,
hart daneben, aber als besondere Stadt, eine neue Neustadt,
so daß die frühere zur Palaeopolis wurde. Es war eine
Art von Naturtrieb in den Hellenen, der sie keine zu große
Menschenanhäufung dulden ließ; so wie diese einzutreten drohte,
löste ein Theil sich ab und gründete, einem ausziehenden
Bienenschwarme gleich, ein neues Gemeinwesen. Nur so glaubte
man Zucht und Sitte aufrecht erhalten zu können, nur so im
Sinne des stadtordnenden Apollo zu handeln, des Gottes der
Harmonie und des Maßes, nach dessen Satzungen die saubere
und übersichtliche Klarheit äußerer Einrichtungen nur ein
Symbol jener höheren Ordnung war, welche in der Seele des
Einzelnen so wie in der Gemeinschaft der Bürger herrschen sollte.

Diese Art der Ansiedelung war vortrefflich, insofern die
Städte zur Ausbreitung griechischer Bildung dienen sollten,
höchst unvortheilhaft aber für die Entwickelung staatlicher
Macht; denn sie veranlaßte eine fortschreitende Zersplitterung
der Volkskraft. Diesem Uebelstande vorzubeugen dienten die¬
jenigen Orte, welche über das nächste Thalgebiet hinaus
Machtansprüche geltend machten und Gruppen kleinerer Städte
um sich sammelten, Vororte, deren Stellung wiederum darauf
beruhte, daß sie Mittelpunkte der Bildung zu werden suchten,
wie Samos und Athen zur Zeit ihrer Tyrannen, und wie die
Stadt der Mytilenäer, welche die anderen Inselstädte zu über¬

Große und kleine Städte.
doppelte war das Kennzeichen einer Großſtadt und als Athen
auf das Dreifache ſtieg, ging es ſchon über das Maß hinaus.
Auch in Betreff des Stadtumfangs hatte man gewiſſe Normen;
denn es kann doch nicht zufällig ſein, daß für drei Städte,
Theben, Athen und das ſchon unter König Servius ſtark hel¬
leniſirte Rom, dieſelbe Zahl von Stadien, 43, als Maß des
Mauerrings angeführt wird. So ängſtlich ſorgte man für
die Begränzung von Raum und Zahl.

Wie die Hellenen verfuhren, erkennt man am deutlichſten
in den Colonialländern. Da wurde z. B. am campaniſchen
Golfe zuerſt Kyme gegründet, dann, als die Stadt voll war,
eine Meile davon Puteoli, dann weiter in derſelben Richtung
das erſte Neapolis und als auch dies ſein Maß erreicht hatte,
hart daneben, aber als beſondere Stadt, eine neue Neuſtadt,
ſo daß die frühere zur Palaeopolis wurde. Es war eine
Art von Naturtrieb in den Hellenen, der ſie keine zu große
Menſchenanhäufung dulden ließ; ſo wie dieſe einzutreten drohte,
löſte ein Theil ſich ab und gründete, einem ausziehenden
Bienenſchwarme gleich, ein neues Gemeinweſen. Nur ſo glaubte
man Zucht und Sitte aufrecht erhalten zu können, nur ſo im
Sinne des ſtadtordnenden Apollo zu handeln, des Gottes der
Harmonie und des Maßes, nach deſſen Satzungen die ſaubere
und überſichtliche Klarheit äußerer Einrichtungen nur ein
Symbol jener höheren Ordnung war, welche in der Seele des
Einzelnen ſo wie in der Gemeinſchaft der Bürger herrſchen ſollte.

Dieſe Art der Anſiedelung war vortrefflich, inſofern die
Städte zur Ausbreitung griechiſcher Bildung dienen ſollten,
höchſt unvortheilhaft aber für die Entwickelung ſtaatlicher
Macht; denn ſie veranlaßte eine fortſchreitende Zerſplitterung
der Volkskraft. Dieſem Uebelſtande vorzubeugen dienten die¬
jenigen Orte, welche über das nächſte Thalgebiet hinaus
Machtanſprüche geltend machten und Gruppen kleinerer Städte
um ſich ſammelten, Vororte, deren Stellung wiederum darauf
beruhte, daß ſie Mittelpunkte der Bildung zu werden ſuchten,
wie Samos und Athen zur Zeit ihrer Tyrannen, und wie die
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[374/0390] Große und kleine Städte. doppelte war das Kennzeichen einer Großſtadt und als Athen auf das Dreifache ſtieg, ging es ſchon über das Maß hinaus. Auch in Betreff des Stadtumfangs hatte man gewiſſe Normen; denn es kann doch nicht zufällig ſein, daß für drei Städte, Theben, Athen und das ſchon unter König Servius ſtark hel¬ leniſirte Rom, dieſelbe Zahl von Stadien, 43, als Maß des Mauerrings angeführt wird. So ängſtlich ſorgte man für die Begränzung von Raum und Zahl. Wie die Hellenen verfuhren, erkennt man am deutlichſten in den Colonialländern. Da wurde z. B. am campaniſchen Golfe zuerſt Kyme gegründet, dann, als die Stadt voll war, eine Meile davon Puteoli, dann weiter in derſelben Richtung das erſte Neapolis und als auch dies ſein Maß erreicht hatte, hart daneben, aber als beſondere Stadt, eine neue Neuſtadt, ſo daß die frühere zur Palaeopolis wurde. Es war eine Art von Naturtrieb in den Hellenen, der ſie keine zu große Menſchenanhäufung dulden ließ; ſo wie dieſe einzutreten drohte, löſte ein Theil ſich ab und gründete, einem ausziehenden Bienenſchwarme gleich, ein neues Gemeinweſen. Nur ſo glaubte man Zucht und Sitte aufrecht erhalten zu können, nur ſo im Sinne des ſtadtordnenden Apollo zu handeln, des Gottes der Harmonie und des Maßes, nach deſſen Satzungen die ſaubere und überſichtliche Klarheit äußerer Einrichtungen nur ein Symbol jener höheren Ordnung war, welche in der Seele des Einzelnen ſo wie in der Gemeinſchaft der Bürger herrſchen ſollte. Dieſe Art der Anſiedelung war vortrefflich, inſofern die Städte zur Ausbreitung griechiſcher Bildung dienen ſollten, höchſt unvortheilhaft aber für die Entwickelung ſtaatlicher Macht; denn ſie veranlaßte eine fortſchreitende Zerſplitterung der Volkskraft. Dieſem Uebelſtande vorzubeugen dienten die¬ jenigen Orte, welche über das nächſte Thalgebiet hinaus Machtanſprüche geltend machten und Gruppen kleinerer Städte um ſich ſammelten, Vororte, deren Stellung wiederum darauf beruhte, daß ſie Mittelpunkte der Bildung zu werden ſuchten, wie Samos und Athen zur Zeit ihrer Tyrannen, und wie die Stadt der Mytilenäer, welche die anderen Inſelſtädte zu über¬

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/390>, abgerufen am 23.11.2024.