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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Große und kleine Städte.
sich die Häusermassen und Straßenzüge, sondern die Stadt¬
quartiere lagern sich übersichtlich um hochragende Kirchen,
deren Glocken, Allen bekannt und Allen vernehmlich, zu ge¬
meinsamer Freude und Trauer die Bürger stimmen.

Wer kennt nicht den Zauber einer solchen Stadt und
wer unter uns fühlt nicht, wenn er ihr angehört, lebenslang
ein leises Heimweh?

Aber wir lernen aus der Geschichte, daß es einem Volke,
welches nicht nur Cultur entwickeln, sondern der selbständige
Träger derselben bleiben und eine dauerhafte Geschichte haben
will, nicht fromme, nur Städte nach griechischem Maßstabe zu
haben, daß wir also höheren Zwecken zu Liebe bereit sein
müssen, auf die Behaglichkeit kleinerer Städte zu verzichten.
Freilich lebt es sich leichter, wo die geselligen Beziehungen
übersichtlich und alle Verhältnisse durch örtliche Sitte geregelt
sind. Man fährt wie auf einem Flusse, von der Strömung
getragen, zwischen nahen Ufern, welche bequeme Anfahrten
gestatten und leichte Orientirung gewähren. Die Großstadt
gleicht dem Meere, wo sich Jeder seine eigene Bahn in den
Wellen suchen und die Sterne kennen muß, um sein Ziel zu
erreichen. Hier wird erst die Kunst der Schifffahrt erlernt
und der Muth erprobt. Je freier der Horizont, desto kühner
geht der Blick auf das Große und Ganze; aus der Heimath
wird ein Vaterland, wo Leute aus verschiedenen Gauen sich
mit einander einleben und ihrer großen Gemeinschaft bewußt
werden.

Als die Perser Griechenland überflutheten, da waren es
nicht die bäuerlichen Gemeinden, welche den Kampf für die
Freiheit aufnahmen, sondern eine Stadt war die Vorkämpferin,
dieselbe, welche durch Themistokles zur Großstadt gemacht
war, und bis zum Ende ist Athen allein der Herd nationaler
Gesinnung geblieben.

Daß Handel, Gewerbfleiß und Kunst großer Städte be¬
dürfen, um zu voller Entwickelung zu gelangen, bedarf keines
Nachweises; ich glaube aber, daß die Energie des Willens,
welche große Städte in Anspruch nehmen, jeder Art geistiger

Große und kleine Städte.
ſich die Häuſermaſſen und Straßenzüge, ſondern die Stadt¬
quartiere lagern ſich überſichtlich um hochragende Kirchen,
deren Glocken, Allen bekannt und Allen vernehmlich, zu ge¬
meinſamer Freude und Trauer die Bürger ſtimmen.

Wer kennt nicht den Zauber einer ſolchen Stadt und
wer unter uns fühlt nicht, wenn er ihr angehört, lebenslang
ein leiſes Heimweh?

Aber wir lernen aus der Geſchichte, daß es einem Volke,
welches nicht nur Cultur entwickeln, ſondern der ſelbſtändige
Träger derſelben bleiben und eine dauerhafte Geſchichte haben
will, nicht fromme, nur Städte nach griechiſchem Maßſtabe zu
haben, daß wir alſo höheren Zwecken zu Liebe bereit ſein
müſſen, auf die Behaglichkeit kleinerer Städte zu verzichten.
Freilich lebt es ſich leichter, wo die geſelligen Beziehungen
überſichtlich und alle Verhältniſſe durch örtliche Sitte geregelt
ſind. Man fährt wie auf einem Fluſſe, von der Strömung
getragen, zwiſchen nahen Ufern, welche bequeme Anfahrten
geſtatten und leichte Orientirung gewähren. Die Großſtadt
gleicht dem Meere, wo ſich Jeder ſeine eigene Bahn in den
Wellen ſuchen und die Sterne kennen muß, um ſein Ziel zu
erreichen. Hier wird erſt die Kunſt der Schifffahrt erlernt
und der Muth erprobt. Je freier der Horizont, deſto kühner
geht der Blick auf das Große und Ganze; aus der Heimath
wird ein Vaterland, wo Leute aus verſchiedenen Gauen ſich
mit einander einleben und ihrer großen Gemeinſchaft bewußt
werden.

Als die Perſer Griechenland überflutheten, da waren es
nicht die bäuerlichen Gemeinden, welche den Kampf für die
Freiheit aufnahmen, ſondern eine Stadt war die Vorkämpferin,
dieſelbe, welche durch Themiſtokles zur Großſtadt gemacht
war, und bis zum Ende iſt Athen allein der Herd nationaler
Geſinnung geblieben.

Daß Handel, Gewerbfleiß und Kunſt großer Städte be¬
dürfen, um zu voller Entwickelung zu gelangen, bedarf keines
Nachweiſes; ich glaube aber, daß die Energie des Willens,
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[376/0392] Große und kleine Städte. ſich die Häuſermaſſen und Straßenzüge, ſondern die Stadt¬ quartiere lagern ſich überſichtlich um hochragende Kirchen, deren Glocken, Allen bekannt und Allen vernehmlich, zu ge¬ meinſamer Freude und Trauer die Bürger ſtimmen. Wer kennt nicht den Zauber einer ſolchen Stadt und wer unter uns fühlt nicht, wenn er ihr angehört, lebenslang ein leiſes Heimweh? Aber wir lernen aus der Geſchichte, daß es einem Volke, welches nicht nur Cultur entwickeln, ſondern der ſelbſtändige Träger derſelben bleiben und eine dauerhafte Geſchichte haben will, nicht fromme, nur Städte nach griechiſchem Maßſtabe zu haben, daß wir alſo höheren Zwecken zu Liebe bereit ſein müſſen, auf die Behaglichkeit kleinerer Städte zu verzichten. Freilich lebt es ſich leichter, wo die geſelligen Beziehungen überſichtlich und alle Verhältniſſe durch örtliche Sitte geregelt ſind. Man fährt wie auf einem Fluſſe, von der Strömung getragen, zwiſchen nahen Ufern, welche bequeme Anfahrten geſtatten und leichte Orientirung gewähren. Die Großſtadt gleicht dem Meere, wo ſich Jeder ſeine eigene Bahn in den Wellen ſuchen und die Sterne kennen muß, um ſein Ziel zu erreichen. Hier wird erſt die Kunſt der Schifffahrt erlernt und der Muth erprobt. Je freier der Horizont, deſto kühner geht der Blick auf das Große und Ganze; aus der Heimath wird ein Vaterland, wo Leute aus verſchiedenen Gauen ſich mit einander einleben und ihrer großen Gemeinſchaft bewußt werden. Als die Perſer Griechenland überflutheten, da waren es nicht die bäuerlichen Gemeinden, welche den Kampf für die Freiheit aufnahmen, ſondern eine Stadt war die Vorkämpferin, dieſelbe, welche durch Themiſtokles zur Großſtadt gemacht war, und bis zum Ende iſt Athen allein der Herd nationaler Geſinnung geblieben. Daß Handel, Gewerbfleiß und Kunſt großer Städte be¬ dürfen, um zu voller Entwickelung zu gelangen, bedarf keines Nachweiſes; ich glaube aber, daß die Energie des Willens, welche große Städte in Anſpruch nehmen, jeder Art geiſtiger

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/392>, abgerufen am 23.11.2024.