ja noch viel weniger als diese von dem Boden, dem sie an¬ gehört, abzulösen.
Es ist ja auch eine alte und weitverbreitete Ueberzeugung, daß man die geistige Entwickelung eines Volks in seiner Hei¬ math am Besten verstehen und würdigen könne. So zogen einst die Römer, je mehr sie erkannten, daß ihre einheimische Bildung mit der griechischen sich verschmelzen müsse, wenn sie eine Weltbildung gewinnen wollten, welche ihnen zugleich die Berechtigung zur Weltherrschaft gäbe, immer zahlreicher nach Athen, um dort einige Jugendjahre zuzubringen und im Haine des Akademos attische Philosophie zu studiren. Persönliche Bekanntschaft mit den wichtigsten Stätten antiker Bildung schien den vornehmen Römern eben so wünschenswerth, wie jetzt den auf höhere Bildung Anspruch machenden Engländern, welche unter den Neueren am Entschiedensten daran festhalten, die klassischen Studien als Grundlage aller höheren Cultur anzusehen.
Es ist im Grunde ein allgemein menschliches Gefühl, daß wir den Schauplatz großer Thaten und Entwickelungen wie geweiht durch dieselben ansehen und uns auf ihm denen näher fühlen, welche dort gelebt haben. Dies Gefühl kann das ver¬ ständige Maß überschreiten. Denn sicher nennen wir es eine Täuschung, wenn man die Anwesenheit im heiligen Lande in der Weise überschätzt, daß man nicht nur zur Veranschaulichung der geschichtlichen Vorgänge daraus Vortheil ziehen will, son¬ dern auch für das Verständniß der Lehre, die dort zuerst ge¬ predigt wurde, und für die Aneignung ihres Inhalts, oder gar mit Schwärmern glauben wollte, daß das Gebet an den heiligen Stätten wirksamer sei als anderswo.
Auch in Beziehung auf das klassische Alterthum ist man von Uebertreibung nicht frei geblieben, wenn man z. B. ge¬ glaubt hat, daß gewisse Gedichte nur an dem bestimmten Platze, auf dem sie gedichtet worden, verständlich würden. Denn da die Dichtung der Alten nur in seltenen Fällen beschreibend ist, giebt es auch nur wenig Stellen, wo die richtige Erklärung von einer genauen Ortskenntniß geradezu abhängig ist; die
Das alte und neue Griechenland.
ja noch viel weniger als dieſe von dem Boden, dem ſie an¬ gehört, abzulöſen.
Es iſt ja auch eine alte und weitverbreitete Ueberzeugung, daß man die geiſtige Entwickelung eines Volks in ſeiner Hei¬ math am Beſten verſtehen und würdigen könne. So zogen einſt die Römer, je mehr ſie erkannten, daß ihre einheimiſche Bildung mit der griechiſchen ſich verſchmelzen müſſe, wenn ſie eine Weltbildung gewinnen wollten, welche ihnen zugleich die Berechtigung zur Weltherrſchaft gäbe, immer zahlreicher nach Athen, um dort einige Jugendjahre zuzubringen und im Haine des Akademos attiſche Philoſophie zu ſtudiren. Perſönliche Bekanntſchaft mit den wichtigſten Stätten antiker Bildung ſchien den vornehmen Römern eben ſo wünſchenswerth, wie jetzt den auf höhere Bildung Anſpruch machenden Engländern, welche unter den Neueren am Entſchiedenſten daran feſthalten, die klaſſiſchen Studien als Grundlage aller höheren Cultur anzuſehen.
Es iſt im Grunde ein allgemein menſchliches Gefühl, daß wir den Schauplatz großer Thaten und Entwickelungen wie geweiht durch dieſelben anſehen und uns auf ihm denen näher fühlen, welche dort gelebt haben. Dies Gefühl kann das ver¬ ſtändige Maß überſchreiten. Denn ſicher nennen wir es eine Täuſchung, wenn man die Anweſenheit im heiligen Lande in der Weiſe überſchätzt, daß man nicht nur zur Veranſchaulichung der geſchichtlichen Vorgänge daraus Vortheil ziehen will, ſon¬ dern auch für das Verſtändniß der Lehre, die dort zuerſt ge¬ predigt wurde, und für die Aneignung ihres Inhalts, oder gar mit Schwärmern glauben wollte, daß das Gebet an den heiligen Stätten wirkſamer ſei als anderswo.
Auch in Beziehung auf das klaſſiſche Alterthum iſt man von Uebertreibung nicht frei geblieben, wenn man z. B. ge¬ glaubt hat, daß gewiſſe Gedichte nur an dem beſtimmten Platze, auf dem ſie gedichtet worden, verſtändlich würden. Denn da die Dichtung der Alten nur in ſeltenen Fällen beſchreibend iſt, giebt es auch nur wenig Stellen, wo die richtige Erklärung von einer genauen Ortskenntniß geradezu abhängig iſt; die
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Das alte und neue Griechenland.
ja noch viel weniger als dieſe von dem Boden, dem ſie an¬
gehört, abzulöſen.
Es iſt ja auch eine alte und weitverbreitete Ueberzeugung,
daß man die geiſtige Entwickelung eines Volks in ſeiner Hei¬
math am Beſten verſtehen und würdigen könne. So zogen
einſt die Römer, je mehr ſie erkannten, daß ihre einheimiſche
Bildung mit der griechiſchen ſich verſchmelzen müſſe, wenn ſie
eine Weltbildung gewinnen wollten, welche ihnen zugleich die
Berechtigung zur Weltherrſchaft gäbe, immer zahlreicher nach
Athen, um dort einige Jugendjahre zuzubringen und im Haine
des Akademos attiſche Philoſophie zu ſtudiren. Perſönliche
Bekanntſchaft mit den wichtigſten Stätten antiker Bildung
ſchien den vornehmen Römern eben ſo wünſchenswerth, wie
jetzt den auf höhere Bildung Anſpruch machenden Engländern,
welche unter den Neueren am Entſchiedenſten daran feſthalten,
die klaſſiſchen Studien als Grundlage aller höheren Cultur
anzuſehen.
Es iſt im Grunde ein allgemein menſchliches Gefühl, daß
wir den Schauplatz großer Thaten und Entwickelungen wie
geweiht durch dieſelben anſehen und uns auf ihm denen näher
fühlen, welche dort gelebt haben. Dies Gefühl kann das ver¬
ſtändige Maß überſchreiten. Denn ſicher nennen wir es eine
Täuſchung, wenn man die Anweſenheit im heiligen Lande in
der Weiſe überſchätzt, daß man nicht nur zur Veranſchaulichung
der geſchichtlichen Vorgänge daraus Vortheil ziehen will, ſon¬
dern auch für das Verſtändniß der Lehre, die dort zuerſt ge¬
predigt wurde, und für die Aneignung ihres Inhalts, oder
gar mit Schwärmern glauben wollte, daß das Gebet an den
heiligen Stätten wirkſamer ſei als anderswo.
Auch in Beziehung auf das klaſſiſche Alterthum iſt man
von Uebertreibung nicht frei geblieben, wenn man z. B. ge¬
glaubt hat, daß gewiſſe Gedichte nur an dem beſtimmten Platze,
auf dem ſie gedichtet worden, verſtändlich würden. Denn da
die Dichtung der Alten nur in ſeltenen Fällen beſchreibend iſt,
giebt es auch nur wenig Stellen, wo die richtige Erklärung
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/40>, abgerufen am 21.11.2024.
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