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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Der Weltgang der griechischen Cultur.
schätzung dessen, was sie geleistet haben, schützt das Studium,
je tiefer es eindringt; ein unfreies und äußerliches Nachmachen
hat niemals lebendige Frucht getragen, während aus der inne¬
ren Vermählung des deutschen und griechischen Geistes neue
Schöpfungskraft entsprungen und das Vollendetste unserer Litte¬
ratur und Kunst hervorgegangen ist. Wir sollen ja auch die
Hellenen nicht als solche lieben und bewundern, sondern, wie
jede wahre Liebe Gottesliebe ist, so sind auch diejenigen die
wahren Philhellenen, welche das Göttliche lieben, das sich in
dem Streben jenes Volks offenbart, und wer von ihnen das
rastlose Suchen nach der verborgenen Wahrheit gelernt hat,
wird der nach ihrer Zeit den Menschen offenbar gewordenen
um so froher und gewisser sein.

Wenn wir also den Geist der Alten uns aneignen, ohne
der Untreue gegen unser Volk und Vaterland schuldig zu wer¬
den; wenn wir uns frei machen von der Herrschaft eines will¬
kürlichen Zeitgeschmacks, ohne uns gegen die Forderungen und
Bewegungen der Gegenwart abzuschließen, wenn wir in der
Schule der Alten den geistigen Blick geklärt, den Wahrheits¬
sinn geschärft, die menschlichen Anlagen frei und allseitig ent¬
wickelt haben, und wir dann im Vollbesitze hellenischer Bildung
dem Christenthum huldigen, als der göttlichen Ordnung, in
welcher nicht nur das Gesetz des alten Bundes, sondern auch
alles Frühere, das von Gott stammt, seine Erfüllung findet:
so wird jene große Aufgabe, auf welche als letztes Ziel die
inhaltreiche Geschichte der hellenischen Cultur hinweist, die
wahre Versöhnung der alten und neuen Welt, allmählich voll¬
zogen werden.


Der Weltgang der griechiſchen Cultur.
ſchätzung deſſen, was ſie geleiſtet haben, ſchützt das Studium,
je tiefer es eindringt; ein unfreies und äußerliches Nachmachen
hat niemals lebendige Frucht getragen, während aus der inne¬
ren Vermählung des deutſchen und griechiſchen Geiſtes neue
Schöpfungskraft entſprungen und das Vollendetſte unſerer Litte¬
ratur und Kunſt hervorgegangen iſt. Wir ſollen ja auch die
Hellenen nicht als ſolche lieben und bewundern, ſondern, wie
jede wahre Liebe Gottesliebe iſt, ſo ſind auch diejenigen die
wahren Philhellenen, welche das Göttliche lieben, das ſich in
dem Streben jenes Volks offenbart, und wer von ihnen das
raſtloſe Suchen nach der verborgenen Wahrheit gelernt hat,
wird der nach ihrer Zeit den Menſchen offenbar gewordenen
um ſo froher und gewiſſer ſein.

Wenn wir alſo den Geiſt der Alten uns aneignen, ohne
der Untreue gegen unſer Volk und Vaterland ſchuldig zu wer¬
den; wenn wir uns frei machen von der Herrſchaft eines will¬
kürlichen Zeitgeſchmacks, ohne uns gegen die Forderungen und
Bewegungen der Gegenwart abzuſchließen, wenn wir in der
Schule der Alten den geiſtigen Blick geklärt, den Wahrheits¬
ſinn geſchärft, die menſchlichen Anlagen frei und allſeitig ent¬
wickelt haben, und wir dann im Vollbeſitze helleniſcher Bildung
dem Chriſtenthum huldigen, als der göttlichen Ordnung, in
welcher nicht nur das Geſetz des alten Bundes, ſondern auch
alles Frühere, das von Gott ſtammt, ſeine Erfüllung findet:
ſo wird jene große Aufgabe, auf welche als letztes Ziel die
inhaltreiche Geſchichte der helleniſchen Cultur hinweiſt, die
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[77/0093] Der Weltgang der griechiſchen Cultur. ſchätzung deſſen, was ſie geleiſtet haben, ſchützt das Studium, je tiefer es eindringt; ein unfreies und äußerliches Nachmachen hat niemals lebendige Frucht getragen, während aus der inne¬ ren Vermählung des deutſchen und griechiſchen Geiſtes neue Schöpfungskraft entſprungen und das Vollendetſte unſerer Litte¬ ratur und Kunſt hervorgegangen iſt. Wir ſollen ja auch die Hellenen nicht als ſolche lieben und bewundern, ſondern, wie jede wahre Liebe Gottesliebe iſt, ſo ſind auch diejenigen die wahren Philhellenen, welche das Göttliche lieben, das ſich in dem Streben jenes Volks offenbart, und wer von ihnen das raſtloſe Suchen nach der verborgenen Wahrheit gelernt hat, wird der nach ihrer Zeit den Menſchen offenbar gewordenen um ſo froher und gewiſſer ſein. Wenn wir alſo den Geiſt der Alten uns aneignen, ohne der Untreue gegen unſer Volk und Vaterland ſchuldig zu wer¬ den; wenn wir uns frei machen von der Herrſchaft eines will¬ kürlichen Zeitgeſchmacks, ohne uns gegen die Forderungen und Bewegungen der Gegenwart abzuſchließen, wenn wir in der Schule der Alten den geiſtigen Blick geklärt, den Wahrheits¬ ſinn geſchärft, die menſchlichen Anlagen frei und allſeitig ent¬ wickelt haben, und wir dann im Vollbeſitze helleniſcher Bildung dem Chriſtenthum huldigen, als der göttlichen Ordnung, in welcher nicht nur das Geſetz des alten Bundes, ſondern auch alles Frühere, das von Gott ſtammt, ſeine Erfüllung findet: ſo wird jene große Aufgabe, auf welche als letztes Ziel die inhaltreiche Geſchichte der helleniſchen Cultur hinweiſt, die wahre Verſöhnung der alten und neuen Welt, allmählich voll¬ zogen werden.

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/93>, abgerufen am 20.05.2024.