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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Kunst der Hellenen.
finde. Und wie sollten zu solcher Anerkennung nicht diejenigen
vor allen Anderen berufen sein, welche es zu ihrer Lebensauf¬
gabe gemacht haben, die Schätze des Alterthums als treue
Hüter zu verwalten! Denn wenn sie aus dem Strome der
Völkergeschichte das ewig Gültige zu retten, das Entstellte und
Verschüttete zu säubern, das Erstorbene neu zu beleben suchen,
so haben ja auch sie in diesem Streben Schinkel zu ihrem
Vorbilde.

Wohl lehnt sich auch hier der Widerspruch auf, welcher
in der menschlichen Natur so leicht sich gegen jede begeisterte
Anerkennung regt, und das für Kraft haltend, was im Grunde
nur Schwäche ist, fragt die Welt, der das heute Neue mehr
gilt, als das ewig Wahre: Warum so viel Preis einem Manne,
der nichts Größeres thun konnte, als auf eine vor Jahrtau¬
senden dagewesene Kunstzeit hinweisen, wie ein rückwärts ge¬
wandter Prophet! Solcher Einrede gegenüber ist es der Alter¬
thumswissenschaft eigenstes Interesse, Schinkel's Ruhm zu ver¬
treten; denn auch ihr wird der Kranz vom Haupte gerissen,
wenn das Alte, weil es vergangen, auch abgethan sein, wenn
es wie eine verblichene Schattenwelt hinter uns liegen soll,
der Gegenstand einer unfruchtbaren Sehnsucht oder einer rein
historischen Wißbegier, ohne Beziehung auf unser heutiges Le¬
ben und Denken. Unsere Wissenschaft soll vielmehr der Opfer¬
grube des Odysseus gleichen, an welcher die Schatten der Unter¬
welt Gestalt und Sprache gewinnen, um wie Lebende mit uns
zu reden, und wenn es wahr ist, was Niebuhr sagt, daß der,
welcher Verschwundenes in das Leben zurückruft, die Seligkeit
des Schaffens genießt, so wird auch der Forscher, je glücklicher
er auf seiner Bahn fortschreitet, einem schaffenden Künstler
immer ähnlicher. Ihn führt der Inhalt zur Form, das Er¬
kennen zum Bilde, die Forschung zum Anschauen. Vom ent¬
gegengesetzten Standpunkte kommt ihm der Künstler entgegen.
Diesen führt das Bilden zum Erkennen -- denn, von tieferem
Streben geleitet, wird er bald inne, wie alles Nachzeichnen
und Nachformen antiker Muster eine Sklavenarbeit ist, ein
Zahlen- und Buchstabendienst, wenn die Gesetze, aus denen

Die Kunſt der Hellenen.
finde. Und wie ſollten zu ſolcher Anerkennung nicht diejenigen
vor allen Anderen berufen ſein, welche es zu ihrer Lebensauf¬
gabe gemacht haben, die Schätze des Alterthums als treue
Hüter zu verwalten! Denn wenn ſie aus dem Strome der
Völkergeſchichte das ewig Gültige zu retten, das Entſtellte und
Verſchüttete zu ſäubern, das Erſtorbene neu zu beleben ſuchen,
ſo haben ja auch ſie in dieſem Streben Schinkel zu ihrem
Vorbilde.

Wohl lehnt ſich auch hier der Widerſpruch auf, welcher
in der menſchlichen Natur ſo leicht ſich gegen jede begeiſterte
Anerkennung regt, und das für Kraft haltend, was im Grunde
nur Schwäche iſt, fragt die Welt, der das heute Neue mehr
gilt, als das ewig Wahre: Warum ſo viel Preis einem Manne,
der nichts Größeres thun konnte, als auf eine vor Jahrtau¬
ſenden dageweſene Kunſtzeit hinweiſen, wie ein rückwärts ge¬
wandter Prophet! Solcher Einrede gegenüber iſt es der Alter¬
thumswiſſenſchaft eigenſtes Intereſſe, Schinkel's Ruhm zu ver¬
treten; denn auch ihr wird der Kranz vom Haupte geriſſen,
wenn das Alte, weil es vergangen, auch abgethan ſein, wenn
es wie eine verblichene Schattenwelt hinter uns liegen ſoll,
der Gegenſtand einer unfruchtbaren Sehnſucht oder einer rein
hiſtoriſchen Wißbegier, ohne Beziehung auf unſer heutiges Le¬
ben und Denken. Unſere Wiſſenſchaft ſoll vielmehr der Opfer¬
grube des Odyſſeus gleichen, an welcher die Schatten der Unter¬
welt Geſtalt und Sprache gewinnen, um wie Lebende mit uns
zu reden, und wenn es wahr iſt, was Niebuhr ſagt, daß der,
welcher Verſchwundenes in das Leben zurückruft, die Seligkeit
des Schaffens genießt, ſo wird auch der Forſcher, je glücklicher
er auf ſeiner Bahn fortſchreitet, einem ſchaffenden Künſtler
immer ähnlicher. Ihn führt der Inhalt zur Form, das Er¬
kennen zum Bilde, die Forſchung zum Anſchauen. Vom ent¬
gegengeſetzten Standpunkte kommt ihm der Künſtler entgegen.
Dieſen führt das Bilden zum Erkennen — denn, von tieferem
Streben geleitet, wird er bald inne, wie alles Nachzeichnen
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[79/0095] Die Kunſt der Hellenen. finde. Und wie ſollten zu ſolcher Anerkennung nicht diejenigen vor allen Anderen berufen ſein, welche es zu ihrer Lebensauf¬ gabe gemacht haben, die Schätze des Alterthums als treue Hüter zu verwalten! Denn wenn ſie aus dem Strome der Völkergeſchichte das ewig Gültige zu retten, das Entſtellte und Verſchüttete zu ſäubern, das Erſtorbene neu zu beleben ſuchen, ſo haben ja auch ſie in dieſem Streben Schinkel zu ihrem Vorbilde. Wohl lehnt ſich auch hier der Widerſpruch auf, welcher in der menſchlichen Natur ſo leicht ſich gegen jede begeiſterte Anerkennung regt, und das für Kraft haltend, was im Grunde nur Schwäche iſt, fragt die Welt, der das heute Neue mehr gilt, als das ewig Wahre: Warum ſo viel Preis einem Manne, der nichts Größeres thun konnte, als auf eine vor Jahrtau¬ ſenden dageweſene Kunſtzeit hinweiſen, wie ein rückwärts ge¬ wandter Prophet! Solcher Einrede gegenüber iſt es der Alter¬ thumswiſſenſchaft eigenſtes Intereſſe, Schinkel's Ruhm zu ver¬ treten; denn auch ihr wird der Kranz vom Haupte geriſſen, wenn das Alte, weil es vergangen, auch abgethan ſein, wenn es wie eine verblichene Schattenwelt hinter uns liegen ſoll, der Gegenſtand einer unfruchtbaren Sehnſucht oder einer rein hiſtoriſchen Wißbegier, ohne Beziehung auf unſer heutiges Le¬ ben und Denken. Unſere Wiſſenſchaft ſoll vielmehr der Opfer¬ grube des Odyſſeus gleichen, an welcher die Schatten der Unter¬ welt Geſtalt und Sprache gewinnen, um wie Lebende mit uns zu reden, und wenn es wahr iſt, was Niebuhr ſagt, daß der, welcher Verſchwundenes in das Leben zurückruft, die Seligkeit des Schaffens genießt, ſo wird auch der Forſcher, je glücklicher er auf ſeiner Bahn fortſchreitet, einem ſchaffenden Künſtler immer ähnlicher. Ihn führt der Inhalt zur Form, das Er¬ kennen zum Bilde, die Forſchung zum Anſchauen. Vom ent¬ gegengeſetzten Standpunkte kommt ihm der Künſtler entgegen. Dieſen führt das Bilden zum Erkennen — denn, von tieferem Streben geleitet, wird er bald inne, wie alles Nachzeichnen und Nachformen antiker Muſter eine Sklavenarbeit iſt, ein Zahlen- und Buchſtabendienſt, wenn die Geſetze, aus denen

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/95>, abgerufen am 23.11.2024.