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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Kunst der Hellenen.
aufgefaßt wurde, suchte man wieder mit einer gewissen Eifer¬
sucht alles Fremde von den Hellenen fern zu halten, als wenn
bei Nachweisung eines auswärtigen Einflusses ihre Ehre auf
dem Spiele stände.

Jetzt sind die älteren Culturen des Morgenlandes in un¬
gleich bestimmteren Formen vor unsere Augen gerückt. Dem
ägyptischen Volke kann man an seinen unverwüstlichen Denk¬
mälern eine Geschichte von mehr als vier Jahrtausenden nach¬
rechnen, so daß, was etwa dem trojanischen Kriege gleichzeitig
ist, vom ägyptischen Standpunkte aus, als etwas schon halb
Modernes, geringerer Aufmerksamkeit würdig erscheint. Die
assyrische Welt mit ihrer Riesenstadt, mit ihren Königspalästen
und Bildersälen, welche ebenso viel Museen der alten Ge¬
schichte sind, steht wie durch ein Wunder enthüllt vor uns.
Der Gesichtskreis ist ein anderer geworden; ein breiter, tiefer
Hintergrund hat sich jenseit der hellenischen Cultur entfaltet,
von welchem sie nicht abgelöst werden kann. Zahlreiche Nieder¬
lassungen, namentlich semitischer Stämme, lassen sich immer
deutlicher an den griechischen Küsten nachweisen; die wichtigsten
Erfindungen des geselligen Lebens wie die Bestimmungen von
Maß und Gewicht bilden eine Kette ununterbrochenen Zu¬
sammenhanges vom Euphratthale bis Italien; religiöse Vor¬
stellungen und Gebräuche von unverkennbarer Verwandtschaft
ziehen ein geheimnißvolles Band durch die Mythologien der alten
Völker, und aus der Beobachtung dieser merkwürdigen That¬
sachen bildet sich jetzt eine allgemeine Culturgeschichte des Alter¬
thums, von welcher man noch vor Kurzem keine Ahnung hatte.
Dadurch ist die Stellung der Hellenen den älteren Völkern des
Morgenlandes gegenüber eine Hauptfrage historischer Forschung
geworden, und wie auch in der Wissenschaft jede energisch ver¬
folgte Richtung ihren Rückschlag nach sich zu ziehen pflegt, so
ist der Otfried Müller'schen Ansicht eine andere auf dem Fuße
gefolgt, welche in Religion und Sitte, in Philosophie und
Kunst den Griechen nichts Eigenes mehr lassen will, und
während man sonst keine größeren Gegensätze kannte als
Hellenenthum und Philisterthum -- so hat man jetzt die Lehre

Curtius, Alterthum. 6

Die Kunſt der Hellenen.
aufgefaßt wurde, ſuchte man wieder mit einer gewiſſen Eifer¬
ſucht alles Fremde von den Hellenen fern zu halten, als wenn
bei Nachweiſung eines auswärtigen Einfluſſes ihre Ehre auf
dem Spiele ſtände.

Jetzt ſind die älteren Culturen des Morgenlandes in un¬
gleich beſtimmteren Formen vor unſere Augen gerückt. Dem
ägyptiſchen Volke kann man an ſeinen unverwüſtlichen Denk¬
mälern eine Geſchichte von mehr als vier Jahrtauſenden nach¬
rechnen, ſo daß, was etwa dem trojaniſchen Kriege gleichzeitig
iſt, vom ägyptiſchen Standpunkte aus, als etwas ſchon halb
Modernes, geringerer Aufmerkſamkeit würdig erſcheint. Die
aſſyriſche Welt mit ihrer Rieſenſtadt, mit ihren Königspaläſten
und Bilderſälen, welche ebenſo viel Muſeen der alten Ge¬
ſchichte ſind, ſteht wie durch ein Wunder enthüllt vor uns.
Der Geſichtskreis iſt ein anderer geworden; ein breiter, tiefer
Hintergrund hat ſich jenſeit der helleniſchen Cultur entfaltet,
von welchem ſie nicht abgelöſt werden kann. Zahlreiche Nieder¬
laſſungen, namentlich ſemitiſcher Stämme, laſſen ſich immer
deutlicher an den griechiſchen Küſten nachweiſen; die wichtigſten
Erfindungen des geſelligen Lebens wie die Beſtimmungen von
Maß und Gewicht bilden eine Kette ununterbrochenen Zu¬
ſammenhanges vom Euphratthale bis Italien; religiöſe Vor¬
ſtellungen und Gebräuche von unverkennbarer Verwandtſchaft
ziehen ein geheimnißvolles Band durch die Mythologien der alten
Völker, und aus der Beobachtung dieſer merkwürdigen That¬
ſachen bildet ſich jetzt eine allgemeine Culturgeſchichte des Alter¬
thums, von welcher man noch vor Kurzem keine Ahnung hatte.
Dadurch iſt die Stellung der Hellenen den älteren Völkern des
Morgenlandes gegenüber eine Hauptfrage hiſtoriſcher Forſchung
geworden, und wie auch in der Wiſſenſchaft jede energiſch ver¬
folgte Richtung ihren Rückſchlag nach ſich zu ziehen pflegt, ſo
iſt der Otfried Müller'ſchen Anſicht eine andere auf dem Fuße
gefolgt, welche in Religion und Sitte, in Philoſophie und
Kunſt den Griechen nichts Eigenes mehr laſſen will, und
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Hellenenthum und Philiſterthum — ſo hat man jetzt die Lehre

Curtius, Alterthum. 6
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[81/0097] Die Kunſt der Hellenen. aufgefaßt wurde, ſuchte man wieder mit einer gewiſſen Eifer¬ ſucht alles Fremde von den Hellenen fern zu halten, als wenn bei Nachweiſung eines auswärtigen Einfluſſes ihre Ehre auf dem Spiele ſtände. Jetzt ſind die älteren Culturen des Morgenlandes in un¬ gleich beſtimmteren Formen vor unſere Augen gerückt. Dem ägyptiſchen Volke kann man an ſeinen unverwüſtlichen Denk¬ mälern eine Geſchichte von mehr als vier Jahrtauſenden nach¬ rechnen, ſo daß, was etwa dem trojaniſchen Kriege gleichzeitig iſt, vom ägyptiſchen Standpunkte aus, als etwas ſchon halb Modernes, geringerer Aufmerkſamkeit würdig erſcheint. Die aſſyriſche Welt mit ihrer Rieſenſtadt, mit ihren Königspaläſten und Bilderſälen, welche ebenſo viel Muſeen der alten Ge¬ ſchichte ſind, ſteht wie durch ein Wunder enthüllt vor uns. Der Geſichtskreis iſt ein anderer geworden; ein breiter, tiefer Hintergrund hat ſich jenſeit der helleniſchen Cultur entfaltet, von welchem ſie nicht abgelöſt werden kann. Zahlreiche Nieder¬ laſſungen, namentlich ſemitiſcher Stämme, laſſen ſich immer deutlicher an den griechiſchen Küſten nachweiſen; die wichtigſten Erfindungen des geſelligen Lebens wie die Beſtimmungen von Maß und Gewicht bilden eine Kette ununterbrochenen Zu¬ ſammenhanges vom Euphratthale bis Italien; religiöſe Vor¬ ſtellungen und Gebräuche von unverkennbarer Verwandtſchaft ziehen ein geheimnißvolles Band durch die Mythologien der alten Völker, und aus der Beobachtung dieſer merkwürdigen That¬ ſachen bildet ſich jetzt eine allgemeine Culturgeſchichte des Alter¬ thums, von welcher man noch vor Kurzem keine Ahnung hatte. Dadurch iſt die Stellung der Hellenen den älteren Völkern des Morgenlandes gegenüber eine Hauptfrage hiſtoriſcher Forſchung geworden, und wie auch in der Wiſſenſchaft jede energiſch ver¬ folgte Richtung ihren Rückſchlag nach ſich zu ziehen pflegt, ſo iſt der Otfried Müller'ſchen Anſicht eine andere auf dem Fuße gefolgt, welche in Religion und Sitte, in Philoſophie und Kunſt den Griechen nichts Eigenes mehr laſſen will, und während man ſonſt keine größeren Gegenſätze kannte als Hellenenthum und Philiſterthum — ſo hat man jetzt die Lehre Curtius, Alterthum. 6

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/97>, abgerufen am 27.11.2024.