Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

schung fest steht, dass dieser Nasal nach e und i ebenso oft
vor Consonanten, wie vor Vocalen sich anfügte. Gab es also
in früher Gräcität zwei Formen ee und een, so lag es unge-
mein nahe, den Nasal in die contrahirte Form mit übergehen
zu lassen. en konnte auf diese Weise bei den Attikern von
der 1. S. e deutlich unterschieden werden. Wir haben den
ganz entsprechenden Vorgang im Plsqpf., wo die 3. S., z. B.
epepoithein, edein, durch attische Texte nach den besten Hand-
schriften und ausserdem für Homer (z. B. Ks 412) durch die
besten Grammatiker völlig gesichert und allgemein anerkannt
sind. Ich verweise nur auf Verb. II2 261 ff., Rutherford New
Phrynichus p. 232. epepoithein aber kann nur aus epepoi-
thein
entstanden sein, ist also auf jeden Fall das, was Brug-
mann "festgewachsenes n ephelkystikon" nennt. Ich halte es
darnach nicht für nöthig, auf die anderweitige Vermuthung
einzugehn, die Gust. Meyer Gr. Gr. S. 374 über en als 3. S.
vorbringt. Meyer stellt es als möglich hin, en sei die alte,
später durch esan verdrängte Form der 3. Pl.

Eine weitere Forderung ist die, dass die Form, welche
das Muster für eine zweite Form abgegeben haben soll, dieser
nahe, oder wie Misteli IX, 369 sich ausdrückt, psycho-
logisch nahe
liege. Es läuft auf dasselbe hinaus, wenn
man die Forderung der Einfachheit gestellt hat, wie selbst
Brugmann (Morphol. Unters. III, 8) die einfachen Behauptungen
der Art den verwickeiteren vorzieht. Gegen diese Forderung
ist aber meines Erachtens oft gefehlt worden, z. B. von Baudat
in den Memoires de la societe de linguistique IV, 361. Die-
ser Gelehrte glaubt das befremdliche w der alten korkyräi-
schen Inschrift (Cauer2 Nr. 83) in der Genitivform Tlasiawo
aus dem Anklang an Formen wie basilewos erklären zu kön-
nen. Aber abgesehen davon, dass das in letzterer Form vor w
von mehreren jüngeren Gelehrten angenommene e gar nicht
nachweisbar ist, kann man gewiss nicht behaupten, dass die

Curtius, Zur Kritik. 4

schung fest steht, dass dieser Nasal nach ε und ῐ ebenso oft
vor Consonanten, wie vor Vocalen sich anfügte. Gab es also
in früher Gräcität zwei Formen ἦε und ἦεν, so lag es unge-
mein nahe, den Nasal in die contrahirte Form mit übergehen
zu lassen. ἦν konnte auf diese Weise bei den Attikern von
der 1. S. deutlich unterschieden werden. Wir haben den
ganz entsprechenden Vorgang im Plsqpf., wo die 3. S., z. B.
ἐπεποίθειν, ᾔδειν, durch attische Texte nach den besten Hand-
schriften und ausserdem für Homer (z. B. Ξ 412) durch die
besten Grammatiker völlig gesichert und allgemein anerkannt
sind. Ich verweise nur auf Verb. II2 261 ff., Rutherford New
Phrynichus p. 232. ἐπεποίθειν aber kann nur aus ἐπεποί-
θειν
entstanden sein, ist also auf jeden Fall das, was Brug-
mann „festgewachsenes ν ephelkystikon“ nennt. Ich halte es
darnach nicht für nöthig, auf die anderweitige Vermuthung
einzugehn, die Gust. Meyer Gr. Gr. S. 374 über ἦν als 3. S.
vorbringt. Meyer stellt es als möglich hin, ἦν sei die alte,
später durch ἦσαν verdrängte Form der 3. Pl.

Eine weitere Forderung ist die, dass die Form, welche
das Muster für eine zweite Form abgegeben haben soll, dieser
nahe, oder wie Misteli IX, 369 sich ausdrückt, psycho-
logisch nahe
liege. Es läuft auf dasselbe hinaus, wenn
man die Forderung der Einfachheit gestellt hat, wie selbst
Brugmann (Morphol. Unters. III, 8) die einfachen Behauptungen
der Art den verwickeiteren vorzieht. Gegen diese Forderung
ist aber meines Erachtens oft gefehlt worden, z. B. von Baudat
in den Mémoires de la société de linguistique IV, 361. Die-
ser Gelehrte glaubt das befremdliche ϝ der alten korkyräi-
schen Inschrift (Cauer2 Nr. 83) in der Genitivform Τλασίαϝo
aus dem Anklang an Formen wie βασιλῆϝος erklären zu kön-
nen. Aber abgesehen davon, dass das in letzterer Form vor ϝ
von mehreren jüngeren Gelehrten angenommene η gar nicht
nachweisbar ist, kann man gewiss nicht behaupten, dass die

Curtius, Zur Kritik. 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0057" n="49"/>
schung fest steht, dass dieser Nasal nach <hi rendition="#i">&#x03B5;</hi> und <hi rendition="#i">&#x03B9;&#x0306;</hi> ebenso oft<lb/>
vor Consonanten, wie vor Vocalen sich anfügte. Gab es also<lb/>
in früher Gräcität zwei Formen <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x1F26;&#x03B5;</foreign></hi> und <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x1F26;&#x03B5;&#x03BD;</foreign></hi>, so lag es unge-<lb/>
mein nahe, den Nasal in die contrahirte Form mit übergehen<lb/>
zu lassen. <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x1F26;&#x03BD;</foreign></hi> konnte auf diese Weise bei den Attikern von<lb/>
der 1. S. <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x1F26;</foreign></hi> deutlich unterschieden werden. Wir haben den<lb/>
ganz entsprechenden Vorgang im Plsqpf., wo die 3. S., z. B.<lb/><hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x1F10;&#x03C0;&#x03B5;&#x03C0;&#x03BF;&#x03AF;&#x03B8;&#x03B5;&#x03B9;&#x03BD;</foreign></hi>, <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x1F24;&#x0345;&#x03B4;&#x03B5;&#x03B9;&#x03BD;</foreign></hi>, durch attische Texte nach den besten Hand-<lb/>
schriften und ausserdem für Homer (z. B. <hi rendition="#i">&#x039E;</hi> 412) durch die<lb/>
besten Grammatiker völlig gesichert und allgemein anerkannt<lb/>
sind. Ich verweise nur auf Verb. II<hi rendition="#sup">2</hi> 261 ff., Rutherford New<lb/>
Phrynichus p. 232. <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x1F10;&#x03C0;&#x03B5;&#x03C0;&#x03BF;&#x03AF;&#x03B8;&#x03B5;&#x03B9;&#x03BD;</foreign></hi> aber kann nur aus <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x1F10;&#x03C0;&#x03B5;&#x03C0;&#x03BF;&#x03AF;-<lb/>
&#x03B8;&#x03B5;&#x03B9;&#x03BD;</foreign></hi> entstanden sein, ist also auf jeden Fall das, was Brug-<lb/>
mann &#x201E;festgewachsenes <hi rendition="#i">&#x03BD; </hi>ephelkystikon&#x201C; nennt. Ich halte es<lb/>
darnach nicht für nöthig, auf die anderweitige Vermuthung<lb/>
einzugehn, die Gust. Meyer Gr. Gr. S. 374 über <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x1F26;&#x03BD;</foreign></hi> als 3. S.<lb/>
vorbringt. Meyer stellt es als möglich hin, <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x1F26;&#x03BD;</foreign></hi> sei die alte,<lb/>
später durch <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x1F26;&#x03C3;&#x03B1;&#x03BD;</foreign></hi> verdrängte Form der 3. Pl.</p><lb/>
        <p> Eine weitere Forderung ist die, dass die Form, welche<lb/>
das Muster für eine zweite Form abgegeben haben soll, dieser<lb/><hi rendition="#g">nahe</hi>, oder wie Misteli IX, 369 sich ausdrückt, <hi rendition="#g">psycho-<lb/>
logisch nahe</hi> liege. Es läuft auf dasselbe hinaus, wenn<lb/>
man die Forderung der Einfachheit gestellt hat, wie selbst<lb/>
Brugmann (Morphol. Unters. III, 8) die einfachen Behauptungen<lb/>
der Art den verwickeiteren vorzieht. Gegen diese Forderung<lb/>
ist aber meines Erachtens oft gefehlt worden, z. B. von Baudat<lb/>
in den Mémoires de la société de linguistique IV, 361. Die-<lb/>
ser Gelehrte glaubt das befremdliche <hi rendition="#i">&#x03DD;</hi> der alten korkyräi-<lb/>
schen Inschrift (Cauer<hi rendition="#sup">2</hi> Nr. 83) in der Genitivform <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03A4;&#x03BB;&#x03B1;&#x03C3;&#x03AF;&#x03B1;&#x03DD;o</foreign></hi><lb/>
aus dem Anklang an Formen wie <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03B2;&#x03B1;&#x03C3;&#x03B9;&#x03BB;&#x1FC6;&#x03DD;&#x03BF;&#x03C2;</foreign></hi> erklären zu kön-<lb/>
nen. Aber abgesehen davon, dass das in letzterer Form vor <hi rendition="#i">&#x03DD;</hi><lb/>
von mehreren jüngeren Gelehrten angenommene &#x03B7; gar nicht<lb/>
nachweisbar ist, kann man gewiss nicht behaupten, dass die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Curtius, Zur Kritik. 4</fw><lb/><lb/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[49/0057] schung fest steht, dass dieser Nasal nach ε und ῐ ebenso oft vor Consonanten, wie vor Vocalen sich anfügte. Gab es also in früher Gräcität zwei Formen ἦε und ἦεν, so lag es unge- mein nahe, den Nasal in die contrahirte Form mit übergehen zu lassen. ἦν konnte auf diese Weise bei den Attikern von der 1. S. ἦ deutlich unterschieden werden. Wir haben den ganz entsprechenden Vorgang im Plsqpf., wo die 3. S., z. B. ἐπεποίθειν, ᾔδειν, durch attische Texte nach den besten Hand- schriften und ausserdem für Homer (z. B. Ξ 412) durch die besten Grammatiker völlig gesichert und allgemein anerkannt sind. Ich verweise nur auf Verb. II2 261 ff., Rutherford New Phrynichus p. 232. ἐπεποίθειν aber kann nur aus ἐπεποί- θειν entstanden sein, ist also auf jeden Fall das, was Brug- mann „festgewachsenes ν ephelkystikon“ nennt. Ich halte es darnach nicht für nöthig, auf die anderweitige Vermuthung einzugehn, die Gust. Meyer Gr. Gr. S. 374 über ἦν als 3. S. vorbringt. Meyer stellt es als möglich hin, ἦν sei die alte, später durch ἦσαν verdrängte Form der 3. Pl. Eine weitere Forderung ist die, dass die Form, welche das Muster für eine zweite Form abgegeben haben soll, dieser nahe, oder wie Misteli IX, 369 sich ausdrückt, psycho- logisch nahe liege. Es läuft auf dasselbe hinaus, wenn man die Forderung der Einfachheit gestellt hat, wie selbst Brugmann (Morphol. Unters. III, 8) die einfachen Behauptungen der Art den verwickeiteren vorzieht. Gegen diese Forderung ist aber meines Erachtens oft gefehlt worden, z. B. von Baudat in den Mémoires de la société de linguistique IV, 361. Die- ser Gelehrte glaubt das befremdliche ϝ der alten korkyräi- schen Inschrift (Cauer2 Nr. 83) in der Genitivform Τλασίαϝo aus dem Anklang an Formen wie βασιλῆϝος erklären zu kön- nen. Aber abgesehen davon, dass das in letzterer Form vor ϝ von mehreren jüngeren Gelehrten angenommene η gar nicht nachweisbar ist, kann man gewiss nicht behaupten, dass die Curtius, Zur Kritik. 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/57
Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/57>, abgerufen am 21.11.2024.