Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

Bild:
<< vorherige Seite

solche Vermuthung noch gar sehr der Begründung. Die be-
kannte Thatsache, dass das o, von einzelnen poetischen Frei-
heiten abgesehen, gerade nur bei Stämmen mit kurzem Vocal
in der vorhergehenden Silbe sich festgesetzt hat, scheint Brug-
mann nicht einmal der Erwähnung werth zu sein. Offenbar
ist bei der allgemein herrschenden Ansicht zu verharren, dass
wir es hier mit einer auf dem rhythmischen Gefühl beruhenden
Dehnung zu thun haben. Die Zusammensetzung der Wörter
und die Ableitung mehrsilbiger Stämme bietet zu solchem
Vorgang vielfache Parallelen, z. B. podenemos, anekoustos,
euonumos, enemoeis, opheles, Formen, für welche irgend-
welche Muster aufzuspüren, denen sie nachgebildet wären,
schwierig sein dürfte. Es zeigt sich hier, denke ich, wie an-
derswo, dass es ausser den Lautgesetzen und Analogiewir-
kungen doch noch allerlei andere Kräfte und Triebe in der
Sprache gibt, die man nicht übersehen darf, und dass es nicht
möglich ist, feste Schritte in unsrer Wissenschaft zu thun,
wenn man nicht die in Frage kommenden Erscheinungen im
ganzen überblickt *)

Das Wort klonis, die Hüfte, steht mit seinem o in auf-
fallender Weise dem Diphthong oder langen Vocal der ver-
wandten Sprachen gegenüber. Die Hüfte heisst auf Sanskrit
cronnis, lat. clunnis. Brugmann Morphol. Unters. III, 20 glaubt
die Schwierigkeit dadurch lösen zu können, dass er annimmt,
klonis sei eine volksetymologische Anlehnung an klonos (kloneo). Aber wir dürfen uns doch die Frage erlauben, was die
"Hüfte" mit dem "Schlachtgetümmel" zu thun hat. Ueberdies
war klonis und das davon abgeleitete üblichere klonister,
Hüftmesser, offenbar zu seiner Zeit ein Wort des täglichen

*) Ein grosser Theil der oben berührten Erscheinungen ist, seitdem
jene Zeilen niedergeschrieben waren, von Ferd. de Saussure unter dem
Titel "Une loi rythmique de la langue Grecque" in den "Melanges Graux"
(1884) p. 737 sqq. mit grossem Scharfsinn unter Gesichtspunkte gebracht,
denen ich im grossen und ganzen zustimme.
4*

solche Vermuthung noch gar sehr der Begründung. Die be-
kannte Thatsache, dass das ω, von einzelnen poetischen Frei-
heiten abgesehen, gerade nur bei Stämmen mit kurzem Vocal
in der vorhergehenden Silbe sich festgesetzt hat, scheint Brug-
mann nicht einmal der Erwähnung werth zu sein. Offenbar
ist bei der allgemein herrschenden Ansicht zu verharren, dass
wir es hier mit einer auf dem rhythmischen Gefühl beruhenden
Dehnung zu thun haben. Die Zusammensetzung der Wörter
und die Ableitung mehrsilbiger Stämme bietet zu solchem
Vorgang vielfache Parallelen, z. B. ποδήνεμος, ἀνήκουστος,
εὐώνυμος, ἠνεμόεις, ὠφελής, Formen, für welche irgend-
welche Muster aufzuspüren, denen sie nachgebildet wären,
schwierig sein dürfte. Es zeigt sich hier, denke ich, wie an-
derswo, dass es ausser den Lautgesetzen und Analogiewir-
kungen doch noch allerlei andere Kräfte und Triebe in der
Sprache gibt, die man nicht übersehen darf, und dass es nicht
möglich ist, feste Schritte in unsrer Wissenschaft zu thun,
wenn man nicht die in Frage kommenden Erscheinungen im
ganzen überblickt *)

Das Wort κλόνις, die Hüfte, steht mit seinem ο in auf-
fallender Weise dem Diphthong oder langen Vocal der ver-
wandten Sprachen gegenüber. Die Hüfte heisst auf Sanskrit
c̹rōṇis, lat. clūnis. Brugmann Morphol. Unters. III, 20 glaubt
die Schwierigkeit dadurch lösen zu können, dass er annimmt,
κλόνις sei eine volksetymologische Anlehnung an κλόνος (κλονέω). Aber wir dürfen uns doch die Frage erlauben, was die
„Hüfte“ mit dem „Schlachtgetümmel“ zu thun hat. Ueberdies
war κλόνις und das davon abgeleitete üblichere κλονιστήρ,
Hüftmesser, offenbar zu seiner Zeit ein Wort des täglichen

*) Ein grosser Theil der oben berührten Erscheinungen ist, seitdem
jene Zeilen niedergeschrieben waren, von Ferd. de Saussure unter dem
Titel „Une loi rythmique de la langue Grecque“ in den „Mélanges Graux"
(1884) p. 737 sqq. mit grossem Scharfsinn unter Gesichtspunkte gebracht,
denen ich im grossen und ganzen zustimme.
4*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0059" n="51"/>
solche Vermuthung noch gar sehr der Begründung. Die be-<lb/>
kannte Thatsache, dass das <hi rendition="#i">&#x03C9;</hi>, von einzelnen poetischen Frei-<lb/>
heiten abgesehen, gerade nur bei Stämmen mit kurzem Vocal<lb/>
in der vorhergehenden Silbe sich festgesetzt hat, scheint Brug-<lb/>
mann nicht einmal der Erwähnung werth zu sein. Offenbar<lb/>
ist bei der allgemein herrschenden Ansicht zu verharren, dass<lb/>
wir es hier mit einer auf dem rhythmischen Gefühl beruhenden<lb/>
Dehnung zu thun haben. Die Zusammensetzung der Wörter<lb/>
und die Ableitung mehrsilbiger Stämme bietet zu solchem<lb/>
Vorgang vielfache Parallelen, z. B. <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03C0;&#x03BF;&#x03B4;&#x03AE;&#x03BD;&#x03B5;&#x03BC;&#x03BF;&#x03C2;</foreign></hi>, <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x1F00;&#x03BD;&#x03AE;&#x03BA;&#x03BF;&#x03C5;&#x03C3;&#x03C4;&#x03BF;&#x03C2;</foreign></hi>,<lb/><hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03B5;&#x1F50;&#x03CE;&#x03BD;&#x03C5;&#x03BC;&#x03BF;&#x03C2;</foreign></hi>, <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x1F20;&#x03BD;&#x03B5;&#x03BC;&#x03CC;&#x03B5;&#x03B9;&#x03C2;</foreign></hi>, <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x1F60;&#x03C6;&#x03B5;&#x03BB;&#x03AE;&#x03C2;</foreign></hi>, Formen, für welche irgend-<lb/>
welche Muster aufzuspüren, denen sie nachgebildet wären,<lb/>
schwierig sein dürfte. Es zeigt sich hier, denke ich, wie an-<lb/>
derswo, dass es ausser den Lautgesetzen und Analogiewir-<lb/>
kungen doch noch allerlei andere Kräfte und Triebe in der<lb/>
Sprache gibt, die man nicht übersehen darf, und dass es nicht<lb/>
möglich ist, feste Schritte in unsrer Wissenschaft zu thun,<lb/>
wenn man nicht die in Frage kommenden Erscheinungen im<lb/>
ganzen überblickt     <note place="foot" n="*)">Ein grosser Theil der oben berührten Erscheinungen ist, seitdem<lb/>
jene Zeilen niedergeschrieben waren, von Ferd. de Saussure unter dem<lb/>
Titel &#x201E;Une loi rythmique de la langue Grecque&#x201C; in den &#x201E;Mélanges Graux"<lb/>
(1884) p. 737 sqq. mit grossem Scharfsinn unter Gesichtspunkte gebracht,<lb/>
denen ich im grossen und ganzen zustimme.<lb/></note></p><lb/>
        <p>Das Wort <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03BA;&#x03BB;&#x03CC;&#x03BD;&#x03B9;&#x03C2;</foreign></hi>, die Hüfte, steht mit seinem &#x03BF; in auf-<lb/>
fallender Weise dem Diphthong oder langen Vocal der ver-<lb/>
wandten Sprachen gegenüber. Die Hüfte heisst auf Sanskrit<lb/><hi rendition="#i"><foreign xml:lang="san">c&#x0339;ro&#x0304;n&#x0323;is</foreign></hi>, lat. <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="lat">clu&#x0304;nis</foreign></hi>. Brugmann Morphol. Unters. III, 20 glaubt<lb/>
die Schwierigkeit dadurch lösen zu können, dass er annimmt,<lb/><hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03BA;&#x03BB;&#x03CC;&#x03BD;&#x03B9;&#x03C2;</foreign></hi> sei eine volksetymologische Anlehnung an <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03BA;&#x03BB;&#x03CC;&#x03BD;&#x03BF;&#x03C2;</foreign></hi> (<hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03BA;&#x03BB;&#x03BF;&#x03BD;&#x03AD;&#x03C9;</foreign></hi>). Aber wir dürfen uns doch die Frage erlauben, was die<lb/>
&#x201E;Hüfte&#x201C; mit dem &#x201E;Schlachtgetümmel&#x201C; zu thun hat. Ueberdies<lb/>
war <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03BA;&#x03BB;&#x03CC;&#x03BD;&#x03B9;&#x03C2;</foreign></hi> und das davon abgeleitete üblichere <hi rendition="#i"><foreign xml:lang="ell">&#x03BA;&#x03BB;&#x03BF;&#x03BD;&#x03B9;&#x03C3;&#x03C4;&#x03AE;&#x03C1;</foreign></hi>,<lb/>
Hüftmesser,  offenbar zu seiner Zeit ein Wort des täglichen<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">4*</fw><lb/><lb/>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[51/0059] solche Vermuthung noch gar sehr der Begründung. Die be- kannte Thatsache, dass das ω, von einzelnen poetischen Frei- heiten abgesehen, gerade nur bei Stämmen mit kurzem Vocal in der vorhergehenden Silbe sich festgesetzt hat, scheint Brug- mann nicht einmal der Erwähnung werth zu sein. Offenbar ist bei der allgemein herrschenden Ansicht zu verharren, dass wir es hier mit einer auf dem rhythmischen Gefühl beruhenden Dehnung zu thun haben. Die Zusammensetzung der Wörter und die Ableitung mehrsilbiger Stämme bietet zu solchem Vorgang vielfache Parallelen, z. B. ποδήνεμος, ἀνήκουστος, εὐώνυμος, ἠνεμόεις, ὠφελής, Formen, für welche irgend- welche Muster aufzuspüren, denen sie nachgebildet wären, schwierig sein dürfte. Es zeigt sich hier, denke ich, wie an- derswo, dass es ausser den Lautgesetzen und Analogiewir- kungen doch noch allerlei andere Kräfte und Triebe in der Sprache gibt, die man nicht übersehen darf, und dass es nicht möglich ist, feste Schritte in unsrer Wissenschaft zu thun, wenn man nicht die in Frage kommenden Erscheinungen im ganzen überblickt *) Das Wort κλόνις, die Hüfte, steht mit seinem ο in auf- fallender Weise dem Diphthong oder langen Vocal der ver- wandten Sprachen gegenüber. Die Hüfte heisst auf Sanskrit c̹rōṇis, lat. clūnis. Brugmann Morphol. Unters. III, 20 glaubt die Schwierigkeit dadurch lösen zu können, dass er annimmt, κλόνις sei eine volksetymologische Anlehnung an κλόνος (κλονέω). Aber wir dürfen uns doch die Frage erlauben, was die „Hüfte“ mit dem „Schlachtgetümmel“ zu thun hat. Ueberdies war κλόνις und das davon abgeleitete üblichere κλονιστήρ, Hüftmesser, offenbar zu seiner Zeit ein Wort des täglichen *) Ein grosser Theil der oben berührten Erscheinungen ist, seitdem jene Zeilen niedergeschrieben waren, von Ferd. de Saussure unter dem Titel „Une loi rythmique de la langue Grecque“ in den „Mélanges Graux" (1884) p. 737 sqq. mit grossem Scharfsinn unter Gesichtspunkte gebracht, denen ich im grossen und ganzen zustimme. 4*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/59
Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/59>, abgerufen am 21.11.2024.