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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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Ueberzeugung, dass die Wahrheit nur gefunden werden kann,
wenn man das ganze Gebiet der Formen, um deren Erklä-
rung es sich handelt, mit sorgfältiger Rücksicht auf Ort,
Zeit, Häufigkeit des Vorkommens und andre Umstände in Be-
tracht zieht und sich, soweit dies möglich ist, in die den
sprechenden Menschen für jeden Fall sich darbietenden Pro-
bleme hinein versetzt. Diese Untersuchung bot uns zugleich
einen Beleg für die ebenfalls nicht zu übersehende Wahrheit,
dass sich recht oft für dieselbe Erscheinung verschiedene Aus-
gangspunkte analogischer Umgestaltung aufstellen lassen, unter
denen die Wahl zu treffen ist, etwa wie zur Heilung der ver-
dorbenen Stelle eines Schriftstellers zwischen verschiedenen
Conjecturen *).

Eine weitere Frage ist die, für wie alte Zeiten der
Sprachgeschichte wir Analogiebildungen annehmen dürfen.
Dass jüngere Sprachperioden dergleichen mehr aufweisen als
ältere, bezweifelt wohl niemand. Dennoch hat man in dem
Eifer, eine möglichst grosse Zahl von Analogiebildungen auf-
zustellen, sie sogar für die allerfrühesten Zeiten als wahr-
scheinlich zu bezeichnen gewagt. Gewiss ist es aber kein
Zufall, dass man vorzugsweise in neueren Sprachen, nament-
lich den romanischen, zuerst auf diese Bildungen aufmerksam
geworden ist, und dass auch anderswo, z. B. im Lateinischen,
unverkennbare Analogiebildungen grossentheils der späten Zeit
angehören. Für wahrscheinlicher können sie daher jedenfalls
nur in jüngeren Perioden der Sprache gelten. Ich schliesse
mich hier einer feinen Bemerkung Paul's in seinen "Principien
der Sprachgeschichte" S. 65 an. Er spricht dort von der "In-

*) Zu dieser ganzen Auseinandersetzung vergleiche man jetzt die
neue Behandlung dieses Gegenstandes durch Osthoff "Zur Geschichte des
Perfects" (Strassburg 1884) S. 284 ff., namentlich die Polemik gegen Joh.
Schmidt S. 614 ff. Ich finde eher Anknüpfungen bei Osthoff als bei Joh.
Schmidt, vermag aber in der Hauptsache auch dem ersteren nicht zu
folgen.

Ueberzeugung, dass die Wahrheit nur gefunden werden kann,
wenn man das ganze Gebiet der Formen, um deren Erklä-
rung es sich handelt, mit sorgfältiger Rücksicht auf Ort,
Zeit, Häufigkeit des Vorkommens und andre Umstände in Be-
tracht zieht und sich, soweit dies möglich ist, in die den
sprechenden Menschen für jeden Fall sich darbietenden Pro-
bleme hinein versetzt. Diese Untersuchung bot uns zugleich
einen Beleg für die ebenfalls nicht zu übersehende Wahrheit,
dass sich recht oft für dieselbe Erscheinung verschiedene Aus-
gangspunkte analogischer Umgestaltung aufstellen lassen, unter
denen die Wahl zu treffen ist, etwa wie zur Heilung der ver-
dorbenen Stelle eines Schriftstellers zwischen verschiedenen
Conjecturen *).

Eine weitere Frage ist die, für wie alte Zeiten der
Sprachgeschichte wir Analogiebildungen annehmen dürfen.
Dass jüngere Sprachperioden dergleichen mehr aufweisen als
ältere, bezweifelt wohl niemand. Dennoch hat man in dem
Eifer, eine möglichst grosse Zahl von Analogiebildungen auf-
zustellen, sie sogar für die allerfrühesten Zeiten als wahr-
scheinlich zu bezeichnen gewagt. Gewiss ist es aber kein
Zufall, dass man vorzugsweise in neueren Sprachen, nament-
lich den romanischen, zuerst auf diese Bildungen aufmerksam
geworden ist, und dass auch anderswo, z. B. im Lateinischen,
unverkennbare Analogiebildungen grossentheils der späten Zeit
angehören. Für wahrscheinlicher können sie daher jedenfalls
nur in jüngeren Perioden der Sprache gelten. Ich schliesse
mich hier einer feinen Bemerkung Paul's in seinen „Principien
der Sprachgeschichte“ S. 65 an. Er spricht dort von der „In-

*) Zu dieser ganzen Auseinandersetzung vergleiche man jetzt die
neue Behandlung dieses Gegenstandes durch Osthoff „Zur Geschichte des
Perfects“ (Strassburg 1884) S. 284 ff., namentlich die Polemik gegen Joh.
Schmidt S. 614 ff. Ich finde eher Anknüpfungen bei Osthoff als bei Joh.
Schmidt, vermag aber in der Hauptsache auch dem ersteren nicht zu
folgen.
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[66/0074] Ueberzeugung, dass die Wahrheit nur gefunden werden kann, wenn man das ganze Gebiet der Formen, um deren Erklä- rung es sich handelt, mit sorgfältiger Rücksicht auf Ort, Zeit, Häufigkeit des Vorkommens und andre Umstände in Be- tracht zieht und sich, soweit dies möglich ist, in die den sprechenden Menschen für jeden Fall sich darbietenden Pro- bleme hinein versetzt. Diese Untersuchung bot uns zugleich einen Beleg für die ebenfalls nicht zu übersehende Wahrheit, dass sich recht oft für dieselbe Erscheinung verschiedene Aus- gangspunkte analogischer Umgestaltung aufstellen lassen, unter denen die Wahl zu treffen ist, etwa wie zur Heilung der ver- dorbenen Stelle eines Schriftstellers zwischen verschiedenen Conjecturen *). Eine weitere Frage ist die, für wie alte Zeiten der Sprachgeschichte wir Analogiebildungen annehmen dürfen. Dass jüngere Sprachperioden dergleichen mehr aufweisen als ältere, bezweifelt wohl niemand. Dennoch hat man in dem Eifer, eine möglichst grosse Zahl von Analogiebildungen auf- zustellen, sie sogar für die allerfrühesten Zeiten als wahr- scheinlich zu bezeichnen gewagt. Gewiss ist es aber kein Zufall, dass man vorzugsweise in neueren Sprachen, nament- lich den romanischen, zuerst auf diese Bildungen aufmerksam geworden ist, und dass auch anderswo, z. B. im Lateinischen, unverkennbare Analogiebildungen grossentheils der späten Zeit angehören. Für wahrscheinlicher können sie daher jedenfalls nur in jüngeren Perioden der Sprache gelten. Ich schliesse mich hier einer feinen Bemerkung Paul's in seinen „Principien der Sprachgeschichte“ S. 65 an. Er spricht dort von der „In- *) Zu dieser ganzen Auseinandersetzung vergleiche man jetzt die neue Behandlung dieses Gegenstandes durch Osthoff „Zur Geschichte des Perfects“ (Strassburg 1884) S. 284 ff., namentlich die Polemik gegen Joh. Schmidt S. 614 ff. Ich finde eher Anknüpfungen bei Osthoff als bei Joh. Schmidt, vermag aber in der Hauptsache auch dem ersteren nicht zu folgen.

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/74>, abgerufen am 21.11.2024.