Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.Neuntes Capitel. ein Adel ohne Lehnsrechte, ein das Volk vertretenderKörper. 232. Darf man so Humen preisen, daß er die Ge- Neuntes Capitel. ein Adel ohne Lehnsrechte, ein das Volk vertretenderKoͤrper. 232. Darf man ſo Humen preiſen, daß er die Ge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0216" n="204"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Neuntes Capitel</hi>.</fw><lb/> ein Adel ohne Lehnsrechte, ein das Volk vertretender<lb/> Koͤrper.</p><lb/> <p>232. Darf man ſo Humen preiſen, daß er die Ge-<lb/> brechen des Lockiſchen Syſtems gluͤcklich an der Hand der<lb/> Erfahrung vermied, ſo ſtellt dagegen der Buͤrger von Genf<lb/> die Humiſche <hi rendition="#g">Sitte</hi> der Gattung als ein <hi rendition="#g">Recht</hi> der<lb/> Gattung auf und erhebt dasſelbe zum Sitze einer unver-<lb/> aͤußerlichen Souveraͤnitaͤt. Auf die Nothbruͤcke, welche<lb/> Locke fuͤr den aͤußerſten Fall geſchlagen hat, baut <hi rendition="#g">Rouſ-<lb/> ſeau</hi> den ganzen Staat. Er geht, wie man ſeit Hobbes<lb/> pflegte, von einem Naturſtande aus, der ihm ungeſellig<lb/> erſcheint, und aus demſelben durch einen freien Vertrag,<lb/> aͤhnlich dem des Locke, in die buͤrgerliche Geſellſchaft uͤber,<lb/> die aber dem Rouſſeau keineswegs als ein Zuſtand der<lb/> Vervollkommnung ſich darſtellt. Dieſer ungluͤcklicherweiſe<lb/> nun einmahl noͤthige Vertrag hat, wie bei Locke, den Schutz<lb/> des Eigenthums zum Zwecke. Der Vertrag wird aber<lb/> keineswegs geſchloſſen zwiſchen einer Regierung, die man<lb/> in Vorausſetzung der definitiven Übereinkunft vorlaͤufig<lb/> ſchon anerkennt, und einem Volke, welches ſich bedin-<lb/> gungsweiſe regieren zu laſſen bereit iſt, ſondern lediglich<lb/> unter den Mitgliedern des Volks ſelber, die demnaͤchſt eine<lb/> Regierung zur Ausfuͤhrung des Vertrags anſtellen und in-<lb/> ſtruiren werden. Er iſt das Reſultat einer freiwilligen<lb/> Übereinkunft aller von Natur gleichen Mitglieder des Volks,<lb/> die ihren Einzel-Willen (<hi rendition="#aq">volonté de tous</hi>) fuͤr die Zu-<lb/> kunft dem allgemeinen Willen (<hi rendition="#aq">volonté générale</hi>) unter-<lb/> werfen. Das Volk iſt und bleibt im Beſitze nicht bloß<lb/> der hoͤchſten, ſondern aller unabhaͤngigen Staatsgewalt<lb/> (<hi rendition="#aq">souverain</hi>). Es uͤbt die Geſetzgebung unmittelbar in<lb/> Volksverſammlungen, deren unvermeidliche Unfoͤrmlichkeit<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [204/0216]
Neuntes Capitel.
ein Adel ohne Lehnsrechte, ein das Volk vertretender
Koͤrper.
232. Darf man ſo Humen preiſen, daß er die Ge-
brechen des Lockiſchen Syſtems gluͤcklich an der Hand der
Erfahrung vermied, ſo ſtellt dagegen der Buͤrger von Genf
die Humiſche Sitte der Gattung als ein Recht der
Gattung auf und erhebt dasſelbe zum Sitze einer unver-
aͤußerlichen Souveraͤnitaͤt. Auf die Nothbruͤcke, welche
Locke fuͤr den aͤußerſten Fall geſchlagen hat, baut Rouſ-
ſeau den ganzen Staat. Er geht, wie man ſeit Hobbes
pflegte, von einem Naturſtande aus, der ihm ungeſellig
erſcheint, und aus demſelben durch einen freien Vertrag,
aͤhnlich dem des Locke, in die buͤrgerliche Geſellſchaft uͤber,
die aber dem Rouſſeau keineswegs als ein Zuſtand der
Vervollkommnung ſich darſtellt. Dieſer ungluͤcklicherweiſe
nun einmahl noͤthige Vertrag hat, wie bei Locke, den Schutz
des Eigenthums zum Zwecke. Der Vertrag wird aber
keineswegs geſchloſſen zwiſchen einer Regierung, die man
in Vorausſetzung der definitiven Übereinkunft vorlaͤufig
ſchon anerkennt, und einem Volke, welches ſich bedin-
gungsweiſe regieren zu laſſen bereit iſt, ſondern lediglich
unter den Mitgliedern des Volks ſelber, die demnaͤchſt eine
Regierung zur Ausfuͤhrung des Vertrags anſtellen und in-
ſtruiren werden. Er iſt das Reſultat einer freiwilligen
Übereinkunft aller von Natur gleichen Mitglieder des Volks,
die ihren Einzel-Willen (volonté de tous) fuͤr die Zu-
kunft dem allgemeinen Willen (volonté générale) unter-
werfen. Das Volk iſt und bleibt im Beſitze nicht bloß
der hoͤchſten, ſondern aller unabhaͤngigen Staatsgewalt
(souverain). Es uͤbt die Geſetzgebung unmittelbar in
Volksverſammlungen, deren unvermeidliche Unfoͤrmlichkeit
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