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Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835.

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Sechzehntes Capitel.
Rede: "dieses ist ein Christlicher Staat" zwar unendlich
viel gesagt ist, aber keineswegs eine völlige Einheit des
Bekenntnisses, eine religiöse Gemeinschaft darunter verstan-
den wird. Nicht einmahl so viel wird verstanden, daß sich
die durch den Staat vereinigten Bürger in demselben
Raume einer Kirche erbauen mögen, daß ihnen dieselben
Tage heilig, dieselben Arbeitstage wären. Es ist wie wenn
einer auf einem Berge steht und sich von dort aus der Har-
monie der Landschaft freut, die sich ringsum fruchtbar ver-
breitet; nun steigt er hinab, ergeht sich in der Landschaft,
und findet alles geschieden in Stadtgebiete, Flecken, Dör-
fer, im kleinsten Dorfe hat jedes Haus seinen Herrn und
Meister, jedes Feld, jeder Baum, allenthalben zwistige
Menschen. Darf der Staat auf dem Berge stehen blei-
ben? oder muß er hinab und ein Einsehn thun? oder lie-
ber ganz einfach: Kann der Staat sich bloß lei-
dend gegen die Kirche verhalten
?

292. Alles wäre leicht abgethan, wäre es mit der
Religion bewandt, wie mit der Gesetzgebung. Jedermann
ist von der Nothwendigkeit überzeugt, den Staatsgesetzen,
auch insofern man sie nicht billigt, zu gehorchen; der Ein-
zelne unterwirft sich, hält sich aber sein Urtheil bevor. Wo
es aber ganz allein das Urtheil gilt, wie in Sachen der
Wissenschaft, da lasse ich mir von keinem Staate vor-
schreiben, und wie ließe sich vollends vorschreiben, was
man von den göttlichen Dingen und ihrer Beziehung
auf die menschlichen glauben soll? Freilich giebt es Ab-
weichungen in der Überzeugung, welche eine Gemeinschaft
nicht ausschließen, weil sie in einer höheren Einheit sich
auflösen, und allerdings könnte man annehmen, daß Chri-
sten, wie auch der Glaubenssatz sie trenne, dennoch über-

Sechzehntes Capitel.
Rede: “dieſes iſt ein Chriſtlicher Staat” zwar unendlich
viel geſagt iſt, aber keineswegs eine voͤllige Einheit des
Bekenntniſſes, eine religioͤſe Gemeinſchaft darunter verſtan-
den wird. Nicht einmahl ſo viel wird verſtanden, daß ſich
die durch den Staat vereinigten Buͤrger in demſelben
Raume einer Kirche erbauen moͤgen, daß ihnen dieſelben
Tage heilig, dieſelben Arbeitstage waͤren. Es iſt wie wenn
einer auf einem Berge ſteht und ſich von dort aus der Har-
monie der Landſchaft freut, die ſich ringsum fruchtbar ver-
breitet; nun ſteigt er hinab, ergeht ſich in der Landſchaft,
und findet alles geſchieden in Stadtgebiete, Flecken, Doͤr-
fer, im kleinſten Dorfe hat jedes Haus ſeinen Herrn und
Meiſter, jedes Feld, jeder Baum, allenthalben zwiſtige
Menſchen. Darf der Staat auf dem Berge ſtehen blei-
ben? oder muß er hinab und ein Einſehn thun? oder lie-
ber ganz einfach: Kann der Staat ſich bloß lei-
dend gegen die Kirche verhalten
?

292. Alles waͤre leicht abgethan, waͤre es mit der
Religion bewandt, wie mit der Geſetzgebung. Jedermann
iſt von der Nothwendigkeit uͤberzeugt, den Staatsgeſetzen,
auch inſofern man ſie nicht billigt, zu gehorchen; der Ein-
zelne unterwirft ſich, haͤlt ſich aber ſein Urtheil bevor. Wo
es aber ganz allein das Urtheil gilt, wie in Sachen der
Wiſſenſchaft, da laſſe ich mir von keinem Staate vor-
ſchreiben, und wie ließe ſich vollends vorſchreiben, was
man von den goͤttlichen Dingen und ihrer Beziehung
auf die menſchlichen glauben ſoll? Freilich giebt es Ab-
weichungen in der Überzeugung, welche eine Gemeinſchaft
nicht ausſchließen, weil ſie in einer hoͤheren Einheit ſich
aufloͤſen, und allerdings koͤnnte man annehmen, daß Chri-
ſten, wie auch der Glaubensſatz ſie trenne, dennoch uͤber-

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[314/0326] Sechzehntes Capitel. Rede: “dieſes iſt ein Chriſtlicher Staat” zwar unendlich viel geſagt iſt, aber keineswegs eine voͤllige Einheit des Bekenntniſſes, eine religioͤſe Gemeinſchaft darunter verſtan- den wird. Nicht einmahl ſo viel wird verſtanden, daß ſich die durch den Staat vereinigten Buͤrger in demſelben Raume einer Kirche erbauen moͤgen, daß ihnen dieſelben Tage heilig, dieſelben Arbeitstage waͤren. Es iſt wie wenn einer auf einem Berge ſteht und ſich von dort aus der Har- monie der Landſchaft freut, die ſich ringsum fruchtbar ver- breitet; nun ſteigt er hinab, ergeht ſich in der Landſchaft, und findet alles geſchieden in Stadtgebiete, Flecken, Doͤr- fer, im kleinſten Dorfe hat jedes Haus ſeinen Herrn und Meiſter, jedes Feld, jeder Baum, allenthalben zwiſtige Menſchen. Darf der Staat auf dem Berge ſtehen blei- ben? oder muß er hinab und ein Einſehn thun? oder lie- ber ganz einfach: Kann der Staat ſich bloß lei- dend gegen die Kirche verhalten? 292. Alles waͤre leicht abgethan, waͤre es mit der Religion bewandt, wie mit der Geſetzgebung. Jedermann iſt von der Nothwendigkeit uͤberzeugt, den Staatsgeſetzen, auch inſofern man ſie nicht billigt, zu gehorchen; der Ein- zelne unterwirft ſich, haͤlt ſich aber ſein Urtheil bevor. Wo es aber ganz allein das Urtheil gilt, wie in Sachen der Wiſſenſchaft, da laſſe ich mir von keinem Staate vor- ſchreiben, und wie ließe ſich vollends vorſchreiben, was man von den goͤttlichen Dingen und ihrer Beziehung auf die menſchlichen glauben ſoll? Freilich giebt es Ab- weichungen in der Überzeugung, welche eine Gemeinſchaft nicht ausſchließen, weil ſie in einer hoͤheren Einheit ſich aufloͤſen, und allerdings koͤnnte man annehmen, daß Chri- ſten, wie auch der Glaubensſatz ſie trenne, dennoch uͤber-

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Zitationshilfe: Dahlmann, Friedrich Christoph: Die Politik, auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt. Bd. 1: Staatsverfassung. Volksbildung. Göttingen, 1835, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dahlmann_politik_1835/326>, abgerufen am 24.11.2024.