Wenn das 13. Jahrhundert als die Blütezeit der deutschen Plastik des Mittelalters bezeichnet und in ihr wieder den Arbeiten am Ostchor des Bam- berger Domes neben denen des Naumburgers der erste Platz zugewiesen wird, so liegt darin sicher keine Überschätzung. Nach der treffenden Würdigung, die sie hinsichtlich ihres allgemeinen Charakters bereits durch Lübke und Bode erfahren haben, darf ich mich ohne Einleitung sogleich dem besonderen Punkte zuwenden, von dem aus auf ihre kunst- geschichtliche Stellung ein neues Licht fallen wird.
Bekanntlich sind in den Bamberger Skulpturen zwei ver- schiedene Richtungen vertreten, die zeitlich zwar höchstens durch zwei Menschenalter, stilistisch jedoch durch eine weite Kluft voneinander getrennt sind. Wir haben es hier allein mit der jün- geren zu tun. Daß zwischen ihr und der älteren die Bindeglieder "leider fehlen", hat schon Bode ausgesprochen; wir werden her- nach sehen, warum sie fehlen: weil der entscheidene Anstoß zum Stilumschwung von außen herzukam.
Unter den Statuen im Innern des Chores gibt man den Preis ohne Zögern den dreien, die sich um den Mittelpfeiler der Nord- seite gruppieren. Es sind, vom Seitenschiff aus gerechnet, links Elisabeth (wahrscheinlicher als "Anna" und sicher nicht "eine Sibylle"), an der Stirnseite Maria, rechts der Engel der Verkün- digung. Bode rühmt an den Frauen die durch große Massen und zugleich durch freie Durchbildung des Details wie durch individuelle Mannigfaltigkeit ausgezeichnete Gewandung, welche zur großen und vornehmen Wirkung der Gestalten ganz besonders beitrage; Lübke spricht von "fast klassischem Stil". In der Tat! es ist klassischer Stil: nicht bloß im Sinne innerer Verwandtschaft oder jenes allgemeinen, durch vielfache Zwischenstufen vermittelten Anklanges, dem wir in den Werken des hohen Mittelalters häufig begegnen. Bei längerer Betrachtung wurde es mir vielmehr sicher, daß hier bestimmte antike Einzelvorbilder eingewirkt haben müssen. Aber wie sollten solche nach Bamberg kommen, -- wo niemals Römer gesessen haben, wo die Bevölkerung zur Zeit der Begründung des Bistums durch Heinrich II. noch halb slawisch war? Das Rätsel
Wenn das 13. Jahrhundert als die Blütezeit der deutschen Plastik des Mittelalters bezeichnet und in ihr wieder den Arbeiten am Ostchor des Bam- berger Domes neben denen des Naumburgers der erste Platz zugewiesen wird, so liegt darin sicher keine Überschätzung. Nach der treffenden Würdigung, die sie hinsichtlich ihres allgemeinen Charakters bereits durch Lübke und Bode erfahren haben, darf ich mich ohne Einleitung sogleich dem besonderen Punkte zuwenden, von dem aus auf ihre kunst- geschichtliche Stellung ein neues Licht fallen wird.
Bekanntlich sind in den Bamberger Skulpturen zwei ver- schiedene Richtungen vertreten, die zeitlich zwar höchstens durch zwei Menschenalter, stilistisch jedoch durch eine weite Kluft voneinander getrennt sind. Wir haben es hier allein mit der jün- geren zu tun. Daß zwischen ihr und der älteren die Bindeglieder »leider fehlen«, hat schon Bode ausgesprochen; wir werden her- nach sehen, warum sie fehlen: weil der entscheidene Anstoß zum Stilumschwung von außen herzukam.
Unter den Statuen im Innern des Chores gibt man den Preis ohne Zögern den dreien, die sich um den Mittelpfeiler der Nord- seite gruppieren. Es sind, vom Seitenschiff aus gerechnet, links Elisabeth (wahrscheinlicher als »Anna« und sicher nicht »eine Sibylle«), an der Stirnseite Maria, rechts der Engel der Verkün- digung. Bode rühmt an den Frauen die durch große Massen und zugleich durch freie Durchbildung des Details wie durch individuelle Mannigfaltigkeit ausgezeichnete Gewandung, welche zur großen und vornehmen Wirkung der Gestalten ganz besonders beitrage; Lübke spricht von »fast klassischem Stil«. In der Tat! es ist klassischer Stil: nicht bloß im Sinne innerer Verwandtschaft oder jenes allgemeinen, durch vielfache Zwischenstufen vermittelten Anklanges, dem wir in den Werken des hohen Mittelalters häufig begegnen. Bei längerer Betrachtung wurde es mir vielmehr sicher, daß hier bestimmte antike Einzelvorbilder eingewirkt haben müssen. Aber wie sollten solche nach Bamberg kommen, — wo niemals Römer gesessen haben, wo die Bevölkerung zur Zeit der Begründung des Bistums durch Heinrich II. noch halb slawisch war? Das Rätsel
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Wenn das 13. Jahrhundert als die Blütezeit der
deutschen Plastik des Mittelalters bezeichnet und
in ihr wieder den Arbeiten am Ostchor des Bam-
berger Domes neben denen des Naumburgers der
erste Platz zugewiesen wird, so liegt darin sicher
keine Überschätzung. Nach der treffenden Würdigung, die sie
hinsichtlich ihres allgemeinen Charakters bereits durch Lübke
und Bode erfahren haben, darf ich mich ohne Einleitung sogleich
dem besonderen Punkte zuwenden, von dem aus auf ihre kunst-
geschichtliche Stellung ein neues Licht fallen wird.
Bekanntlich sind in den Bamberger Skulpturen zwei ver-
schiedene Richtungen vertreten, die zeitlich zwar höchstens durch
zwei Menschenalter, stilistisch jedoch durch eine weite Kluft
voneinander getrennt sind. Wir haben es hier allein mit der jün-
geren zu tun. Daß zwischen ihr und der älteren die Bindeglieder
»leider fehlen«, hat schon Bode ausgesprochen; wir werden her-
nach sehen, warum sie fehlen: weil der entscheidene Anstoß
zum Stilumschwung von außen herzukam.
Unter den Statuen im Innern des Chores gibt man den Preis
ohne Zögern den dreien, die sich um den Mittelpfeiler der Nord-
seite gruppieren. Es sind, vom Seitenschiff aus gerechnet, links
Elisabeth (wahrscheinlicher als »Anna« und sicher nicht »eine
Sibylle«), an der Stirnseite Maria, rechts der Engel der Verkün-
digung. Bode rühmt an den Frauen die durch große Massen
und zugleich durch freie Durchbildung des Details wie durch
individuelle Mannigfaltigkeit ausgezeichnete Gewandung, welche
zur großen und vornehmen Wirkung der Gestalten ganz besonders
beitrage; Lübke spricht von »fast klassischem Stil«. In der Tat!
es ist klassischer Stil: nicht bloß im Sinne innerer Verwandtschaft
oder jenes allgemeinen, durch vielfache Zwischenstufen vermittelten
Anklanges, dem wir in den Werken des hohen Mittelalters häufig
begegnen. Bei längerer Betrachtung wurde es mir vielmehr sicher,
daß hier bestimmte antike Einzelvorbilder eingewirkt haben müssen.
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. [93]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/107>, abgerufen am 24.11.2024.
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