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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
umgebenden Raum übergreift. Aber auch inhaltlich ist die Straßen-
szene höchst unterhaltend. Wir sehen an der Ecke des ganz indi-
viduell dargestellten Hauses -- Burckhardt meint, es könne das
eigene des Meisters sein -- einen Verkaufsladen, in dem Mal- und
Schnitzware feilgeboten wird; ein Kleriker steht davor und prüft
sie; ein Knabe tummelt sein Steckenpferd; ein paar Stutzer be-
grüßen sich -- und es fehlt auch nicht eine Pfütze, in der die Fi-
guren sich spiegeln.

Sehet her! so scheint der Maler den Betrachtern seines Bildes,
den Menschen vom Jahre 1440, zurufen zu wollen, dies alles dringt
täglich und stündlich in euer Auge ein, und doch habt ihr es noch
nie bemerkt! es ist auch gleichgültig in der Wirklichkeit, aber
indem ich es zum Bilde mache, wird es interessant! bringt es in euch
Empfindungen hervor, von denen ihr noch nie etwas gewußt habt.

Und wie schildert er die Heiligen, die allein ihm eigentlich zu
malen aufgegeben waren? Auch sie werden derselben Betrach-
tungsweise unterworfen. Sie sollen exemplifizieren, wie sich auf
einer ebenen Fläche plastischer Schein hervorrufen läßt. Damit
ist das Interesse des Künstlers an ihnen zu Ende. Feierlicher,
inniger, stärker zum Gemüte sprechend waren sie von der älteren
Kunst oft gegeben worden; diese hier bedeuten als geistige Wesen
nichts, die Köpfe sind trivial in der Form und leer im Ausdruck,
über die Leiber erhalten wir nur geringen Aufschluß; um so aus-
führlicheren über Gewand und Schmuck.

Witzens Werke in Basel und Genf (Taf. 6, 7) vervollständigen
sein künstlerisches Charakterbild nach mehreren Seiten, ohne es zu
verändern. Auf sie näher einzugehen verbietet uns der diesem Auf-
satz zugemessene Raum; nur den zwei beistehend in Zinkätzung
wiedergegebenen Tafeln müssen wir ein paar Worte noch widmen.
Auf ihnen war und waren zusammengesetzte Szenen darzustellen.
Nichts Leichtes gewiß, diese Aufgabe mit derjenigen Auffassung
des Realismus, die wir vom Straßburger Bilde her kennen, in Ein-
klang zu bringen. Von Komposition nach Rücksichten der Sym-
metrie, des zusammenhängenden Linienflusses usw. ist nicht die
Rede; die Schilderung der räumlichen Umgebung behält einen
sehr breiten Raum; die Gewissenhaftigkeit in der Wiedergabe

Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
umgebenden Raum übergreift. Aber auch inhaltlich ist die Straßen-
szene höchst unterhaltend. Wir sehen an der Ecke des ganz indi-
viduell dargestellten Hauses — Burckhardt meint, es könne das
eigene des Meisters sein — einen Verkaufsladen, in dem Mal- und
Schnitzware feilgeboten wird; ein Kleriker steht davor und prüft
sie; ein Knabe tummelt sein Steckenpferd; ein paar Stutzer be-
grüßen sich — und es fehlt auch nicht eine Pfütze, in der die Fi-
guren sich spiegeln.

Sehet her! so scheint der Maler den Betrachtern seines Bildes,
den Menschen vom Jahre 1440, zurufen zu wollen, dies alles dringt
täglich und stündlich in euer Auge ein, und doch habt ihr es noch
nie bemerkt! es ist auch gleichgültig in der Wirklichkeit, aber
indem ich es zum Bilde mache, wird es interessant! bringt es in euch
Empfindungen hervor, von denen ihr noch nie etwas gewußt habt.

Und wie schildert er die Heiligen, die allein ihm eigentlich zu
malen aufgegeben waren? Auch sie werden derselben Betrach-
tungsweise unterworfen. Sie sollen exemplifizieren, wie sich auf
einer ebenen Fläche plastischer Schein hervorrufen läßt. Damit
ist das Interesse des Künstlers an ihnen zu Ende. Feierlicher,
inniger, stärker zum Gemüte sprechend waren sie von der älteren
Kunst oft gegeben worden; diese hier bedeuten als geistige Wesen
nichts, die Köpfe sind trivial in der Form und leer im Ausdruck,
über die Leiber erhalten wir nur geringen Aufschluß; um so aus-
führlicheren über Gewand und Schmuck.

Witzens Werke in Basel und Genf (Taf. 6, 7) vervollständigen
sein künstlerisches Charakterbild nach mehreren Seiten, ohne es zu
verändern. Auf sie näher einzugehen verbietet uns der diesem Auf-
satz zugemessene Raum; nur den zwei beistehend in Zinkätzung
wiedergegebenen Tafeln müssen wir ein paar Worte noch widmen.
Auf ihnen war und waren zusammengesetzte Szenen darzustellen.
Nichts Leichtes gewiß, diese Aufgabe mit derjenigen Auffassung
des Realismus, die wir vom Straßburger Bilde her kennen, in Ein-
klang zu bringen. Von Komposition nach Rücksichten der Sym-
metrie, des zusammenhängenden Linienflusses usw. ist nicht die
Rede; die Schilderung der räumlichen Umgebung behält einen
sehr breiten Raum; die Gewissenhaftigkeit in der Wiedergabe

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[125/0147] Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit umgebenden Raum übergreift. Aber auch inhaltlich ist die Straßen- szene höchst unterhaltend. Wir sehen an der Ecke des ganz indi- viduell dargestellten Hauses — Burckhardt meint, es könne das eigene des Meisters sein — einen Verkaufsladen, in dem Mal- und Schnitzware feilgeboten wird; ein Kleriker steht davor und prüft sie; ein Knabe tummelt sein Steckenpferd; ein paar Stutzer be- grüßen sich — und es fehlt auch nicht eine Pfütze, in der die Fi- guren sich spiegeln. Sehet her! so scheint der Maler den Betrachtern seines Bildes, den Menschen vom Jahre 1440, zurufen zu wollen, dies alles dringt täglich und stündlich in euer Auge ein, und doch habt ihr es noch nie bemerkt! es ist auch gleichgültig in der Wirklichkeit, aber indem ich es zum Bilde mache, wird es interessant! bringt es in euch Empfindungen hervor, von denen ihr noch nie etwas gewußt habt. Und wie schildert er die Heiligen, die allein ihm eigentlich zu malen aufgegeben waren? Auch sie werden derselben Betrach- tungsweise unterworfen. Sie sollen exemplifizieren, wie sich auf einer ebenen Fläche plastischer Schein hervorrufen läßt. Damit ist das Interesse des Künstlers an ihnen zu Ende. Feierlicher, inniger, stärker zum Gemüte sprechend waren sie von der älteren Kunst oft gegeben worden; diese hier bedeuten als geistige Wesen nichts, die Köpfe sind trivial in der Form und leer im Ausdruck, über die Leiber erhalten wir nur geringen Aufschluß; um so aus- führlicheren über Gewand und Schmuck. Witzens Werke in Basel und Genf (Taf. 6, 7) vervollständigen sein künstlerisches Charakterbild nach mehreren Seiten, ohne es zu verändern. Auf sie näher einzugehen verbietet uns der diesem Auf- satz zugemessene Raum; nur den zwei beistehend in Zinkätzung wiedergegebenen Tafeln müssen wir ein paar Worte noch widmen. Auf ihnen war und waren zusammengesetzte Szenen darzustellen. Nichts Leichtes gewiß, diese Aufgabe mit derjenigen Auffassung des Realismus, die wir vom Straßburger Bilde her kennen, in Ein- klang zu bringen. Von Komposition nach Rücksichten der Sym- metrie, des zusammenhängenden Linienflusses usw. ist nicht die Rede; die Schilderung der räumlichen Umgebung behält einen sehr breiten Raum; die Gewissenhaftigkeit in der Wiedergabe

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/147>, abgerufen am 28.11.2024.