Die Rolle, die für die Malerei das schwäbische Bodenseegebiet gespielt hat, ist bekannt. Wollte man, einem Analogieschluß fol- gend, die ersten Realisten in der Bildhauerkunst ebenfalls am Bodensee suchen, so würde man sich jedoch getäuscht sehen. So- viel wir zurzeit wissen, ist vielmehr Ulm der Ort. Paul Hartmann hat die erste, noch ganz vereinzelte Regung des neuen Stils an den Archivoltaposteln des Münsterwestportales (Taf. 8) nachgewiesen. Die Entstehungszeit ist überraschend früh. Sie liegt sicher inner- halb der beiden ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts, wahr- scheinlich noch vor 1415. An eine rein bodenwüchsige Entwick- lung kann nicht wohl gedacht werden, irgendwie muß ein Licht- strahl aus der Gegend Klaus Slüters den Ulmer Apostelmeister getroffen haben. Vermutungen über seine Vorgeschichte zu äußern, wäre müßig. Auch ist er in Ulm oder sonstwo in Schwaben nicht wieder anzutreffen. Irgendwo habe ich gelesen, daß man ihn mit dem Meister Hartmann, der 1420 die Statuetten an der Stirnwand der Vorhalle oberhalb der Bögen ablieferte, hat iden- tifizieren wollen. Das ist aber völlig mißgegriffen.
Nun habe ich den Ulmer Apostelmeister an einem von Ulm sehr weit entfernten Punkte wiedergefunden. Er ist der Urheber der Reliefs an der Tumba des Erzbischofs Friedrich von Saar- werden im Dom zu Köln (Tafel 9). Man vergleiche: dasselbe ge- preßte Sitzen auf niedrigen Stühlen, dieselbe sehr bestimmt aus- geprägte Gewandbehandlung, dieselbe Form der unter dem Saum des Kleides vorlugenden Fußzehen, dieselben Kopftypen, dieselbe Haar- und Bartbehandlung, zusammenfassend: dieselben mimischen und physiognomischen Mittel zur Darstellung gespannten Nach- denkens. Das sind Übereinstimmungen, die um so schwerer wiegen, als sie in technisch verschiedener Form -- das eine Mal Rund- plastik, das andre Mal Relief -- auftreten und die vollends ein- deutig werden durch den großen Abstand, der sowohl das Ulmer als das Kölner Werk von ihrer künstlerischen Umwelt trennt. Dazu sind wir in der günstigen Lage, die zeitliche Nähe der Ent- stehung bestimmter als in den meisten ähnlichen Fällen nach- weisen zu können. Für die Ulmer Apostel verbürgt die Eigenschaft als Archivoltfiguren das Zusammengehen mit der Architektur.
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. 9
Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
Die Rolle, die für die Malerei das schwäbische Bodenseegebiet gespielt hat, ist bekannt. Wollte man, einem Analogieschluß fol- gend, die ersten Realisten in der Bildhauerkunst ebenfalls am Bodensee suchen, so würde man sich jedoch getäuscht sehen. So- viel wir zurzeit wissen, ist vielmehr Ulm der Ort. Paul Hartmann hat die erste, noch ganz vereinzelte Regung des neuen Stils an den Archivoltaposteln des Münsterwestportales (Taf. 8) nachgewiesen. Die Entstehungszeit ist überraschend früh. Sie liegt sicher inner- halb der beiden ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts, wahr- scheinlich noch vor 1415. An eine rein bodenwüchsige Entwick- lung kann nicht wohl gedacht werden, irgendwie muß ein Licht- strahl aus der Gegend Klaus Slüters den Ulmer Apostelmeister getroffen haben. Vermutungen über seine Vorgeschichte zu äußern, wäre müßig. Auch ist er in Ulm oder sonstwo in Schwaben nicht wieder anzutreffen. Irgendwo habe ich gelesen, daß man ihn mit dem Meister Hartmann, der 1420 die Statuetten an der Stirnwand der Vorhalle oberhalb der Bögen ablieferte, hat iden- tifizieren wollen. Das ist aber völlig mißgegriffen.
Nun habe ich den Ulmer Apostelmeister an einem von Ulm sehr weit entfernten Punkte wiedergefunden. Er ist der Urheber der Reliefs an der Tumba des Erzbischofs Friedrich von Saar- werden im Dom zu Köln (Tafel 9). Man vergleiche: dasselbe ge- preßte Sitzen auf niedrigen Stühlen, dieselbe sehr bestimmt aus- geprägte Gewandbehandlung, dieselbe Form der unter dem Saum des Kleides vorlugenden Fußzehen, dieselben Kopftypen, dieselbe Haar- und Bartbehandlung, zusammenfassend: dieselben mimischen und physiognomischen Mittel zur Darstellung gespannten Nach- denkens. Das sind Übereinstimmungen, die um so schwerer wiegen, als sie in technisch verschiedener Form — das eine Mal Rund- plastik, das andre Mal Relief — auftreten und die vollends ein- deutig werden durch den großen Abstand, der sowohl das Ulmer als das Kölner Werk von ihrer künstlerischen Umwelt trennt. Dazu sind wir in der günstigen Lage, die zeitliche Nähe der Ent- stehung bestimmter als in den meisten ähnlichen Fällen nach- weisen zu können. Für die Ulmer Apostel verbürgt die Eigenschaft als Archivoltfiguren das Zusammengehen mit der Architektur.
Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. 9
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Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
Die Rolle, die für die Malerei das schwäbische Bodenseegebiet
gespielt hat, ist bekannt. Wollte man, einem Analogieschluß fol-
gend, die ersten Realisten in der Bildhauerkunst ebenfalls am
Bodensee suchen, so würde man sich jedoch getäuscht sehen. So-
viel wir zurzeit wissen, ist vielmehr Ulm der Ort. Paul Hartmann
hat die erste, noch ganz vereinzelte Regung des neuen Stils an den
Archivoltaposteln des Münsterwestportales (Taf. 8) nachgewiesen.
Die Entstehungszeit ist überraschend früh. Sie liegt sicher inner-
halb der beiden ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts, wahr-
scheinlich noch vor 1415. An eine rein bodenwüchsige Entwick-
lung kann nicht wohl gedacht werden, irgendwie muß ein Licht-
strahl aus der Gegend Klaus Slüters den Ulmer Apostelmeister
getroffen haben. Vermutungen über seine Vorgeschichte zu äußern,
wäre müßig. Auch ist er in Ulm oder sonstwo in Schwaben
nicht wieder anzutreffen. Irgendwo habe ich gelesen, daß man
ihn mit dem Meister Hartmann, der 1420 die Statuetten an der
Stirnwand der Vorhalle oberhalb der Bögen ablieferte, hat iden-
tifizieren wollen. Das ist aber völlig mißgegriffen.
Nun habe ich den Ulmer Apostelmeister an einem von Ulm
sehr weit entfernten Punkte wiedergefunden. Er ist der Urheber
der Reliefs an der Tumba des Erzbischofs Friedrich von Saar-
werden im Dom zu Köln (Tafel 9). Man vergleiche: dasselbe ge-
preßte Sitzen auf niedrigen Stühlen, dieselbe sehr bestimmt aus-
geprägte Gewandbehandlung, dieselbe Form der unter dem Saum
des Kleides vorlugenden Fußzehen, dieselben Kopftypen, dieselbe
Haar- und Bartbehandlung, zusammenfassend: dieselben mimischen
und physiognomischen Mittel zur Darstellung gespannten Nach-
denkens. Das sind Übereinstimmungen, die um so schwerer wiegen,
als sie in technisch verschiedener Form — das eine Mal Rund-
plastik, das andre Mal Relief — auftreten und die vollends ein-
deutig werden durch den großen Abstand, der sowohl das Ulmer
als das Kölner Werk von ihrer künstlerischen Umwelt trennt.
Dazu sind wir in der günstigen Lage, die zeitliche Nähe der Ent-
stehung bestimmter als in den meisten ähnlichen Fällen nach-
weisen zu können. Für die Ulmer Apostel verbürgt die Eigenschaft
als Archivoltfiguren das Zusammengehen mit der Architektur.
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/151>, abgerufen am 28.11.2024.
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