Das Mittelalter beginnt kunstgeschichtlich dort, wo die griechisch-römische Kunst, auf ihrem eigenen Boden abgestorben, im Schoße fremden Volkstums in neue, abartende Entwicklungen eintritt. In diesem allgemeinsten Sinne hat die abendländische Kunst denselben Ausgangspunkt wie die byzantinisch-orientalische. Verschieden ist aber hier und dort nicht nur das aufnehmende Me- dium, sondern auch formal die Art der Verbindung. Im Osten trifft die griechisch-römische Kunst mit einer anderen, die ihre eigenen, sehr alten und sehr bestimmt gerichteten Überlieferungen hat, zusammen. Die jungen Völker des Westens dagegen, Kelten und Romanen, haben ihr nichts Eigenes und Fertiges entgegenzustellen. Ihre Götter wohnten nicht in Tempeln, ihre Könige nicht in Pa- lästen. Sie waren ohne Kunst. Von einer Vermischung zweier Systeme, wie sie im Osten sich vollzog, ist bei ihnen nicht die Rede.
Gewiß, alles, was nachher die mittleren und neueren Zeiten künstlerisch geleistet haben, bliebe unverständlich ohne die An- nahme, daß irgendwo in einem sehr verborgenen Winkel der ger- manischen Volksseele auch ein Keim zu künstlerischer Anlage bereitlag. Nur bleibt er für uns unsichtbar. Er besteht lediglich als potentielle Energie und mußte lange schlummern, bis er in aktuelle sich umwandeln konnte. Phantasiebegabung zwar war das letzte, was der germanischen Volksseele gefehlt hätte. Die ihr natürlichste Form, sich auszudrücken, war aber die Dichtung; übergreifend selbst auf Gebiete, die ihrem Wesen nach dem Ver- stand gehören, wie Recht und Staat; nicht vorhanden war jene feinere sinnliche Reizbarkeit, die zur bildenden Kunst führt. Es will etwas sagen, daß der dreihundertjährige Zeitraum römischer Herrschaft in Germanien für die Erziehung der Unterworfenen nach der künstlerischen Seite völlig unfruchtbar blieb: über ein bescheidenes Begehren nach Schmückung ihres Leibes, ihrer Be- hausungen, Geräte und Waffen kamen sie nicht hinaus, und die Formen, die sie in Gebrauch hatten, waren von früh auf aus dem Kunstkreise der Mittelmeervölker geborgt. Alles Suchen nach einem ureigenen germanischen Formenschatz ist umsonst; was man zuweilen dafür gehalten hat, besonders im Bereiche der Nord-
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Das Mittelalter beginnt kunstgeschichtlich dort, wo die griechisch-römische Kunst, auf ihrem eigenen Boden abgestorben, im Schoße fremden Volkstums in neue, abartende Entwicklungen eintritt. In diesem allgemeinsten Sinne hat die abendländische Kunst denselben Ausgangspunkt wie die byzantinisch-orientalische. Verschieden ist aber hier und dort nicht nur das aufnehmende Me- dium, sondern auch formal die Art der Verbindung. Im Osten trifft die griechisch-römische Kunst mit einer anderen, die ihre eigenen, sehr alten und sehr bestimmt gerichteten Überlieferungen hat, zusammen. Die jungen Völker des Westens dagegen, Kelten und Romanen, haben ihr nichts Eigenes und Fertiges entgegenzustellen. Ihre Götter wohnten nicht in Tempeln, ihre Könige nicht in Pa- lästen. Sie waren ohne Kunst. Von einer Vermischung zweier Systeme, wie sie im Osten sich vollzog, ist bei ihnen nicht die Rede.
Gewiß, alles, was nachher die mittleren und neueren Zeiten künstlerisch geleistet haben, bliebe unverständlich ohne die An- nahme, daß irgendwo in einem sehr verborgenen Winkel der ger- manischen Volksseele auch ein Keim zu künstlerischer Anlage bereitlag. Nur bleibt er für uns unsichtbar. Er besteht lediglich als potentielle Energie und mußte lange schlummern, bis er in aktuelle sich umwandeln konnte. Phantasiebegabung zwar war das letzte, was der germanischen Volksseele gefehlt hätte. Die ihr natürlichste Form, sich auszudrücken, war aber die Dichtung; übergreifend selbst auf Gebiete, die ihrem Wesen nach dem Ver- stand gehören, wie Recht und Staat; nicht vorhanden war jene feinere sinnliche Reizbarkeit, die zur bildenden Kunst führt. Es will etwas sagen, daß der dreihundertjährige Zeitraum römischer Herrschaft in Germanien für die Erziehung der Unterworfenen nach der künstlerischen Seite völlig unfruchtbar blieb: über ein bescheidenes Begehren nach Schmückung ihres Leibes, ihrer Be- hausungen, Geräte und Waffen kamen sie nicht hinaus, und die Formen, die sie in Gebrauch hatten, waren von früh auf aus dem Kunstkreise der Mittelmeervölker geborgt. Alles Suchen nach einem ureigenen germanischen Formenschatz ist umsonst; was man zuweilen dafür gehalten hat, besonders im Bereiche der Nord-
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Das Mittelalter beginnt kunstgeschichtlich dort, wo
die griechisch-römische Kunst, auf ihrem eigenen
Boden abgestorben, im Schoße fremden Volkstums
in neue, abartende Entwicklungen eintritt. In
diesem allgemeinsten Sinne hat die abendländische
Kunst denselben Ausgangspunkt wie die byzantinisch-orientalische.
Verschieden ist aber hier und dort nicht nur das aufnehmende Me-
dium, sondern auch formal die Art der Verbindung. Im Osten trifft
die griechisch-römische Kunst mit einer anderen, die ihre eigenen,
sehr alten und sehr bestimmt gerichteten Überlieferungen hat,
zusammen. Die jungen Völker des Westens dagegen, Kelten und
Romanen, haben ihr nichts Eigenes und Fertiges entgegenzustellen.
Ihre Götter wohnten nicht in Tempeln, ihre Könige nicht in Pa-
lästen. Sie waren ohne Kunst. Von einer Vermischung zweier
Systeme, wie sie im Osten sich vollzog, ist bei ihnen nicht die Rede.
Gewiß, alles, was nachher die mittleren und neueren Zeiten
künstlerisch geleistet haben, bliebe unverständlich ohne die An-
nahme, daß irgendwo in einem sehr verborgenen Winkel der ger-
manischen Volksseele auch ein Keim zu künstlerischer Anlage
bereitlag. Nur bleibt er für uns unsichtbar. Er besteht lediglich
als potentielle Energie und mußte lange schlummern, bis er in
aktuelle sich umwandeln konnte. Phantasiebegabung zwar war
das letzte, was der germanischen Volksseele gefehlt hätte. Die
ihr natürlichste Form, sich auszudrücken, war aber die Dichtung;
übergreifend selbst auf Gebiete, die ihrem Wesen nach dem Ver-
stand gehören, wie Recht und Staat; nicht vorhanden war jene
feinere sinnliche Reizbarkeit, die zur bildenden Kunst führt.
Es will etwas sagen, daß der dreihundertjährige Zeitraum römischer
Herrschaft in Germanien für die Erziehung der Unterworfenen
nach der künstlerischen Seite völlig unfruchtbar blieb: über ein
bescheidenes Begehren nach Schmückung ihres Leibes, ihrer Be-
hausungen, Geräte und Waffen kamen sie nicht hinaus, und die
Formen, die sie in Gebrauch hatten, waren von früh auf aus dem
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einem ureigenen germanischen Formenschatz ist umsonst; was
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/17>, abgerufen am 03.12.2024.
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