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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom
nicht mehr bloß einen zeitlich bestimmten Stil zu verstehen,
sondern erkennt man darin ein allgemeineres Stilprinzip, das, ein
eigenes Formensystem entbehrend, eines jeden historischen Stils
sich bemächtigen kann, so wird der Begriff erst fruchtbar. Nach
meiner Auffassung sind Renaissance und Barock sich nicht gefolgt,
sie gehen von Anfang an nebeneinander her und scheiden die nach-
mittelalterliche Kunstwelt so: Renaissance ist, im Bunde mit der
nach ihr genannten Kultur, der Stil Italiens; Barock ist das spontane
neuzeitliche Produkt derselben nordischen Völker, die im Mittel-
alter den romanischen und gotischen Stil geschaffen hatten. Gleich-
wie die späte Gotik Italiens latente Renaissance ist, so ist die späte
Gotik der Germanen latentes Barock. Im XVI. Jahrhundert
in Deutschland begegnen sich beide. Man rede nicht länger von
spätgotischer Rückständigkeit als dem Hindernis eines reineren
Verständnisses der Renaissance: was der Renaissance in den Weg
trat, war nicht die tote Gotik, sondern das sehr lebendige Barock.
Die echte Renaissance hat es in Deutschland nur zu vorübergehenden
und auch da nur zu halben Siegen gebracht. Kongenial wurde sie
den Deutschen erst, wenn sie sich mit dem Barock verbündete.
Dies geschah schon bei den ersten Versuchen der Annäherung
an die Welschen; man nehme als Beispiele die Hofgalerie in der
Bischofsresidenz zu Freising, den Domkreuzgang zu Regensburg,
den St. Kiliansturm in Heilbronn und die ganze Reihe der ersten
sogenannten Renaissancegrabmäler. Wie sind hier mit sicherem
Instinkt alle barocken Elemente der oberitalienischen Früh-
renaissance herausgefunden! Daneben blieb ein wirklicher Renais-
sancebau, wie die Residenz in Landshut, ganz ohne Wirkung.

Nach dieser Zwischenbemerkung dürfen wir zu Backofen zurück-
kehren. Die Frage, wo sein stilgeschichtlicher Platz sei, beant-
wortet sich nun von selbst. Es ist genau der Punkt, wo Spätgotik
und Barock sich die Hand reichen -- an der Renaissance vorbei.
Ich sage das, trotzdem Backofen einer der allerersten ist, der, nach
Ausweis seiner Ornamentik, mit der italienischen Kunst Fühlung
gesucht hat1). Die einzige Wirkung derselben auf ihn ist die,

1) Bezeichnend für Backofens Stellung zur Renaissance sind die am
Sockel des Gemmingendenkmals, zu beiden Seiten der Inschrifttafel, mit

Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom
nicht mehr bloß einen zeitlich bestimmten Stil zu verstehen,
sondern erkennt man darin ein allgemeineres Stilprinzip, das, ein
eigenes Formensystem entbehrend, eines jeden historischen Stils
sich bemächtigen kann, so wird der Begriff erst fruchtbar. Nach
meiner Auffassung sind Renaissance und Barock sich nicht gefolgt,
sie gehen von Anfang an nebeneinander her und scheiden die nach-
mittelalterliche Kunstwelt so: Renaissance ist, im Bunde mit der
nach ihr genannten Kultur, der Stil Italiens; Barock ist das spontane
neuzeitliche Produkt derselben nordischen Völker, die im Mittel-
alter den romanischen und gotischen Stil geschaffen hatten. Gleich-
wie die späte Gotik Italiens latente Renaissance ist, so ist die späte
Gotik der Germanen latentes Barock. Im XVI. Jahrhundert
in Deutschland begegnen sich beide. Man rede nicht länger von
spätgotischer Rückständigkeit als dem Hindernis eines reineren
Verständnisses der Renaissance: was der Renaissance in den Weg
trat, war nicht die tote Gotik, sondern das sehr lebendige Barock.
Die echte Renaissance hat es in Deutschland nur zu vorübergehenden
und auch da nur zu halben Siegen gebracht. Kongenial wurde sie
den Deutschen erst, wenn sie sich mit dem Barock verbündete.
Dies geschah schon bei den ersten Versuchen der Annäherung
an die Welschen; man nehme als Beispiele die Hofgalerie in der
Bischofsresidenz zu Freising, den Domkreuzgang zu Regensburg,
den St. Kiliansturm in Heilbronn und die ganze Reihe der ersten
sogenannten Renaissancegrabmäler. Wie sind hier mit sicherem
Instinkt alle barocken Elemente der oberitalienischen Früh-
renaissance herausgefunden! Daneben blieb ein wirklicher Renais-
sancebau, wie die Residenz in Landshut, ganz ohne Wirkung.

Nach dieser Zwischenbemerkung dürfen wir zu Backofen zurück-
kehren. Die Frage, wo sein stilgeschichtlicher Platz sei, beant-
wortet sich nun von selbst. Es ist genau der Punkt, wo Spätgotik
und Barock sich die Hand reichen — an der Renaissance vorbei.
Ich sage das, trotzdem Backofen einer der allerersten ist, der, nach
Ausweis seiner Ornamentik, mit der italienischen Kunst Fühlung
gesucht hat1). Die einzige Wirkung derselben auf ihn ist die,

1) Bezeichnend für Backofens Stellung zur Renaissance sind die am
Sockel des Gemmingendenkmals, zu beiden Seiten der Inschrifttafel, mit
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[141/0173] Der Meister des Gemmingendenkmals im Mainzer Dom nicht mehr bloß einen zeitlich bestimmten Stil zu verstehen, sondern erkennt man darin ein allgemeineres Stilprinzip, das, ein eigenes Formensystem entbehrend, eines jeden historischen Stils sich bemächtigen kann, so wird der Begriff erst fruchtbar. Nach meiner Auffassung sind Renaissance und Barock sich nicht gefolgt, sie gehen von Anfang an nebeneinander her und scheiden die nach- mittelalterliche Kunstwelt so: Renaissance ist, im Bunde mit der nach ihr genannten Kultur, der Stil Italiens; Barock ist das spontane neuzeitliche Produkt derselben nordischen Völker, die im Mittel- alter den romanischen und gotischen Stil geschaffen hatten. Gleich- wie die späte Gotik Italiens latente Renaissance ist, so ist die späte Gotik der Germanen latentes Barock. Im XVI. Jahrhundert in Deutschland begegnen sich beide. Man rede nicht länger von spätgotischer Rückständigkeit als dem Hindernis eines reineren Verständnisses der Renaissance: was der Renaissance in den Weg trat, war nicht die tote Gotik, sondern das sehr lebendige Barock. Die echte Renaissance hat es in Deutschland nur zu vorübergehenden und auch da nur zu halben Siegen gebracht. Kongenial wurde sie den Deutschen erst, wenn sie sich mit dem Barock verbündete. Dies geschah schon bei den ersten Versuchen der Annäherung an die Welschen; man nehme als Beispiele die Hofgalerie in der Bischofsresidenz zu Freising, den Domkreuzgang zu Regensburg, den St. Kiliansturm in Heilbronn und die ganze Reihe der ersten sogenannten Renaissancegrabmäler. Wie sind hier mit sicherem Instinkt alle barocken Elemente der oberitalienischen Früh- renaissance herausgefunden! Daneben blieb ein wirklicher Renais- sancebau, wie die Residenz in Landshut, ganz ohne Wirkung. Nach dieser Zwischenbemerkung dürfen wir zu Backofen zurück- kehren. Die Frage, wo sein stilgeschichtlicher Platz sei, beant- wortet sich nun von selbst. Es ist genau der Punkt, wo Spätgotik und Barock sich die Hand reichen — an der Renaissance vorbei. Ich sage das, trotzdem Backofen einer der allerersten ist, der, nach Ausweis seiner Ornamentik, mit der italienischen Kunst Fühlung gesucht hat 1). Die einzige Wirkung derselben auf ihn ist die, 1) Bezeichnend für Backofens Stellung zur Renaissance sind die am Sockel des Gemmingendenkmals, zu beiden Seiten der Inschrifttafel, mit

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/173>, abgerufen am 13.05.2024.