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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
ein ganzes Museum zusammenstellen lassen. Und wie sehen die
Landkirchen dieser Zeit aus? Mindestens drei Altäre waren vor-
handen, ein Hauptaltar und zwei Nebenaltäre, ein jeder reich
mit Schnitzbildern und bemalten Flügeln ausgestattet; an der
Decke des Altarhauses Freskogemälde; in der Sakristei ein oft
sehr auserlesenes Gerät und Parament; am Fußboden und an
den Wänden Grabdenkmäler des örtlichen Adels, manchmal in
den besten Werkstätten der benachbarten Städte angefertigt;
draußen vor der Kirche regelmäßig ein Ölberg und eine Kreuzi-
gungsgruppe. Die wenigen heute noch einigermaßen vollständig
erhaltenen Exemplare solcher Dorfkirchenausstattungen, wie etwa
Pipping bei München oder Kronberg bei Frankfurt, erfüllen uns
mit Staunen; damals aber gab es dergleichen Hunderte. Denken
wir dann noch an die elementar vordrängende Bilderlust, die im
15. Jahrhundert zur Ausbildung des Holzschnittes und Kupfer-
stichs führte und in der, wenn auch oft in derber Form, unendlich
viel mehr Geist steckte als in dem mechanischen Illustrationswesen,
durch das heute die rohe stoffliche Neugier befriedigt wird, so
können wir nur sagen: wir sind heute vergleichsweise Bettler und
Barbaren. Wir wollen es nicht verkennen, die künstlerische Mas-
senproduktion jener Zeit hatte auch ihre Gefahren; als Ganzes,
in der Leistung wie in der Wirkung, muß sie uns enorm impo-
nieren.

Auf die volkstümliche Kunst des 15. Jahrhunderts kam in
den drei ersten Dekaden des 16. Jahrhunderts die eigentlich große
Zeit, über die ich weiter nichts zu sagen nötig habe -- und auf
diese folgte sofort eine ungeheure Senkung der Kurve. 1528 starb
Dürer, 1529 starben Grünewald und Peter Vischer, 1531 Riemen-
schneider und Burckmair, 1532 verschwand zum zweitenmal und
nun auf Nimmerwiedersehen Holbein aus seinem Vaterlande, er,
der am meisten dazu berufen gewesen wäre, das Problem der
Renaissance im deutschen Sinne zu lösen; Cranach und Baldung
lebten länger, bis gegen Ende der vierziger Jahre, waren aber mit
ihrer Altarskunst schon auf abschüssiger Bahn. Dann die Ange-
hörigen der jüngeren Generation, die Söhne Vischers, die Schüler
Dürers usw., sie haben um 1530, längstens 1535 ihre Erbschaft

Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
ein ganzes Museum zusammenstellen lassen. Und wie sehen die
Landkirchen dieser Zeit aus? Mindestens drei Altäre waren vor-
handen, ein Hauptaltar und zwei Nebenaltäre, ein jeder reich
mit Schnitzbildern und bemalten Flügeln ausgestattet; an der
Decke des Altarhauses Freskogemälde; in der Sakristei ein oft
sehr auserlesenes Gerät und Parament; am Fußboden und an
den Wänden Grabdenkmäler des örtlichen Adels, manchmal in
den besten Werkstätten der benachbarten Städte angefertigt;
draußen vor der Kirche regelmäßig ein Ölberg und eine Kreuzi-
gungsgruppe. Die wenigen heute noch einigermaßen vollständig
erhaltenen Exemplare solcher Dorfkirchenausstattungen, wie etwa
Pipping bei München oder Kronberg bei Frankfurt, erfüllen uns
mit Staunen; damals aber gab es dergleichen Hunderte. Denken
wir dann noch an die elementar vordrängende Bilderlust, die im
15. Jahrhundert zur Ausbildung des Holzschnittes und Kupfer-
stichs führte und in der, wenn auch oft in derber Form, unendlich
viel mehr Geist steckte als in dem mechanischen Illustrationswesen,
durch das heute die rohe stoffliche Neugier befriedigt wird, so
können wir nur sagen: wir sind heute vergleichsweise Bettler und
Barbaren. Wir wollen es nicht verkennen, die künstlerische Mas-
senproduktion jener Zeit hatte auch ihre Gefahren; als Ganzes,
in der Leistung wie in der Wirkung, muß sie uns enorm impo-
nieren.

Auf die volkstümliche Kunst des 15. Jahrhunderts kam in
den drei ersten Dekaden des 16. Jahrhunderts die eigentlich große
Zeit, über die ich weiter nichts zu sagen nötig habe — und auf
diese folgte sofort eine ungeheure Senkung der Kurve. 1528 starb
Dürer, 1529 starben Grünewald und Peter Vischer, 1531 Riemen-
schneider und Burckmair, 1532 verschwand zum zweitenmal und
nun auf Nimmerwiedersehen Holbein aus seinem Vaterlande, er,
der am meisten dazu berufen gewesen wäre, das Problem der
Renaissance im deutschen Sinne zu lösen; Cranach und Baldung
lebten länger, bis gegen Ende der vierziger Jahre, waren aber mit
ihrer Altarskunst schon auf abschüssiger Bahn. Dann die Ange-
hörigen der jüngeren Generation, die Söhne Vischers, die Schüler
Dürers usw., sie haben um 1530, längstens 1535 ihre Erbschaft

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[149/0191] Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert ein ganzes Museum zusammenstellen lassen. Und wie sehen die Landkirchen dieser Zeit aus? Mindestens drei Altäre waren vor- handen, ein Hauptaltar und zwei Nebenaltäre, ein jeder reich mit Schnitzbildern und bemalten Flügeln ausgestattet; an der Decke des Altarhauses Freskogemälde; in der Sakristei ein oft sehr auserlesenes Gerät und Parament; am Fußboden und an den Wänden Grabdenkmäler des örtlichen Adels, manchmal in den besten Werkstätten der benachbarten Städte angefertigt; draußen vor der Kirche regelmäßig ein Ölberg und eine Kreuzi- gungsgruppe. Die wenigen heute noch einigermaßen vollständig erhaltenen Exemplare solcher Dorfkirchenausstattungen, wie etwa Pipping bei München oder Kronberg bei Frankfurt, erfüllen uns mit Staunen; damals aber gab es dergleichen Hunderte. Denken wir dann noch an die elementar vordrängende Bilderlust, die im 15. Jahrhundert zur Ausbildung des Holzschnittes und Kupfer- stichs führte und in der, wenn auch oft in derber Form, unendlich viel mehr Geist steckte als in dem mechanischen Illustrationswesen, durch das heute die rohe stoffliche Neugier befriedigt wird, so können wir nur sagen: wir sind heute vergleichsweise Bettler und Barbaren. Wir wollen es nicht verkennen, die künstlerische Mas- senproduktion jener Zeit hatte auch ihre Gefahren; als Ganzes, in der Leistung wie in der Wirkung, muß sie uns enorm impo- nieren. Auf die volkstümliche Kunst des 15. Jahrhunderts kam in den drei ersten Dekaden des 16. Jahrhunderts die eigentlich große Zeit, über die ich weiter nichts zu sagen nötig habe — und auf diese folgte sofort eine ungeheure Senkung der Kurve. 1528 starb Dürer, 1529 starben Grünewald und Peter Vischer, 1531 Riemen- schneider und Burckmair, 1532 verschwand zum zweitenmal und nun auf Nimmerwiedersehen Holbein aus seinem Vaterlande, er, der am meisten dazu berufen gewesen wäre, das Problem der Renaissance im deutschen Sinne zu lösen; Cranach und Baldung lebten länger, bis gegen Ende der vierziger Jahre, waren aber mit ihrer Altarskunst schon auf abschüssiger Bahn. Dann die Ange- hörigen der jüngeren Generation, die Söhne Vischers, die Schüler Dürers usw., sie haben um 1530, längstens 1535 ihre Erbschaft

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/191>, abgerufen am 14.05.2024.