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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
der vorangehenden Entwicklung war, so ist nicht einzusehen,
warum sie auf erreichtem Höhepunkte plötzlich abbrechen mußte.
Wollte man sagen, es kam daher, daß auf einmal die Talente fehlten,
so wäre das keine Erklärung, nur eine Tautologie. Nein, die Er-
klärung kann nur in der Richtung gesucht werden, daß nicht
sowohl in der Kunst selbst als in ihrer geistigen Umwelt Ver-
änderungen vor sich gegangen sein müssen, die unheilbringend in
die Welt der Kunst eindrangen, ihren Zusammenhang mit dem
allgemeinen Bewußtsein lockerten; und zwar so tief lockerten,
daß die bildende Kunst im Gesamtleben unseres Volkes niemals
-- ja, so ist es leider, niemals -- die Bedeutung wiedererlangt hat,
die sie im Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, bis zu der Krisis,
von der wir sprachen, besessen hatte. Die geistige Struktur des
deutschen Volkes konnte sich nach und nach so einseitig umlagern,
daß selbst ein so durch und durch ästhetisch angelegtes Zeitalter
wie das Goethes und Schillers, Mozarts und Beethovens für die
bildende Kunst vergleichsweise so gut wie unfruchtbar blieb.

Also was waren die Ursachen? Die am öftesten gehörte Ant-
wort lautet: es war die Reformation. Die einen sprechen
sie im Tone bitterer Anklage aus, die anderen als ein verschämtes
Zugeständnis. Ich sehe nicht ein, warum hier nicht ein von Be-
schuldigung oder Rettung absehendes, rein historisches Urteil mög-
lich sein sollte, und will gleich zu Anfang meine Meinung dahin
abgeben, daß zwar zweifellos die Reformation mit eine Ursache
war, aber daß sie doch als einzige Erklärung nicht genügt. Daß
ein in das deutsche Leben so tief und dauernd eingreifendes Er-
eignis die Kunst hätte unberührt lassen können, ist von vornherein
undenkbar. Und nun gar diese deutsche Kunst, sie, die in ihrer
ganzen bisherigen Geschichte aufs engste an das Institut der
Kirche gebunden gewesen war. Wenn die alte Kirche stürzte,
so war es notwendig auch mit der alten Kunst vorbei. Das fühlte
auch das katholische Deutschland. Auch hier war die kirchliche
Kunst wenn nicht vernichtet, so doch auf den toten Punkt ge-
bracht, über den sie erst hinwegkam, als sie sich ins Schlepptau
der romanischen Gegenreformationskunst begab. Die deutsche
Reformation war an sich nicht kunstfeindlich -- die gelegentlichen

Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
der vorangehenden Entwicklung war, so ist nicht einzusehen,
warum sie auf erreichtem Höhepunkte plötzlich abbrechen mußte.
Wollte man sagen, es kam daher, daß auf einmal die Talente fehlten,
so wäre das keine Erklärung, nur eine Tautologie. Nein, die Er-
klärung kann nur in der Richtung gesucht werden, daß nicht
sowohl in der Kunst selbst als in ihrer geistigen Umwelt Ver-
änderungen vor sich gegangen sein müssen, die unheilbringend in
die Welt der Kunst eindrangen, ihren Zusammenhang mit dem
allgemeinen Bewußtsein lockerten; und zwar so tief lockerten,
daß die bildende Kunst im Gesamtleben unseres Volkes niemals
— ja, so ist es leider, niemals — die Bedeutung wiedererlangt hat,
die sie im Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, bis zu der Krisis,
von der wir sprachen, besessen hatte. Die geistige Struktur des
deutschen Volkes konnte sich nach und nach so einseitig umlagern,
daß selbst ein so durch und durch ästhetisch angelegtes Zeitalter
wie das Goethes und Schillers, Mozarts und Beethovens für die
bildende Kunst vergleichsweise so gut wie unfruchtbar blieb.

Also was waren die Ursachen? Die am öftesten gehörte Ant-
wort lautet: es war die Reformation. Die einen sprechen
sie im Tone bitterer Anklage aus, die anderen als ein verschämtes
Zugeständnis. Ich sehe nicht ein, warum hier nicht ein von Be-
schuldigung oder Rettung absehendes, rein historisches Urteil mög-
lich sein sollte, und will gleich zu Anfang meine Meinung dahin
abgeben, daß zwar zweifellos die Reformation mit eine Ursache
war, aber daß sie doch als einzige Erklärung nicht genügt. Daß
ein in das deutsche Leben so tief und dauernd eingreifendes Er-
eignis die Kunst hätte unberührt lassen können, ist von vornherein
undenkbar. Und nun gar diese deutsche Kunst, sie, die in ihrer
ganzen bisherigen Geschichte aufs engste an das Institut der
Kirche gebunden gewesen war. Wenn die alte Kirche stürzte,
so war es notwendig auch mit der alten Kunst vorbei. Das fühlte
auch das katholische Deutschland. Auch hier war die kirchliche
Kunst wenn nicht vernichtet, so doch auf den toten Punkt ge-
bracht, über den sie erst hinwegkam, als sie sich ins Schlepptau
der romanischen Gegenreformationskunst begab. Die deutsche
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[154/0196] Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert der vorangehenden Entwicklung war, so ist nicht einzusehen, warum sie auf erreichtem Höhepunkte plötzlich abbrechen mußte. Wollte man sagen, es kam daher, daß auf einmal die Talente fehlten, so wäre das keine Erklärung, nur eine Tautologie. Nein, die Er- klärung kann nur in der Richtung gesucht werden, daß nicht sowohl in der Kunst selbst als in ihrer geistigen Umwelt Ver- änderungen vor sich gegangen sein müssen, die unheilbringend in die Welt der Kunst eindrangen, ihren Zusammenhang mit dem allgemeinen Bewußtsein lockerten; und zwar so tief lockerten, daß die bildende Kunst im Gesamtleben unseres Volkes niemals — ja, so ist es leider, niemals — die Bedeutung wiedererlangt hat, die sie im Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, bis zu der Krisis, von der wir sprachen, besessen hatte. Die geistige Struktur des deutschen Volkes konnte sich nach und nach so einseitig umlagern, daß selbst ein so durch und durch ästhetisch angelegtes Zeitalter wie das Goethes und Schillers, Mozarts und Beethovens für die bildende Kunst vergleichsweise so gut wie unfruchtbar blieb. Also was waren die Ursachen? Die am öftesten gehörte Ant- wort lautet: es war die Reformation. Die einen sprechen sie im Tone bitterer Anklage aus, die anderen als ein verschämtes Zugeständnis. Ich sehe nicht ein, warum hier nicht ein von Be- schuldigung oder Rettung absehendes, rein historisches Urteil mög- lich sein sollte, und will gleich zu Anfang meine Meinung dahin abgeben, daß zwar zweifellos die Reformation mit eine Ursache war, aber daß sie doch als einzige Erklärung nicht genügt. Daß ein in das deutsche Leben so tief und dauernd eingreifendes Er- eignis die Kunst hätte unberührt lassen können, ist von vornherein undenkbar. Und nun gar diese deutsche Kunst, sie, die in ihrer ganzen bisherigen Geschichte aufs engste an das Institut der Kirche gebunden gewesen war. Wenn die alte Kirche stürzte, so war es notwendig auch mit der alten Kunst vorbei. Das fühlte auch das katholische Deutschland. Auch hier war die kirchliche Kunst wenn nicht vernichtet, so doch auf den toten Punkt ge- bracht, über den sie erst hinwegkam, als sie sich ins Schlepptau der romanischen Gegenreformationskunst begab. Die deutsche Reformation war an sich nicht kunstfeindlich — die gelegentlichen

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/196>, abgerufen am 14.05.2024.