Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.Die Kunst des Mittelalters sich; das dreizehnte sah in der Baukunst, wie auf allen andernGebieten des mittelalterlichen Kultursystems die Höhe. Immer wird auch die Frühzeit für den Historiker kulturpsychologisch ein großes Interesse bewahren. Wir wollen als ihre Grenzen in ab- gerundeter Rechnung die Jahre 800 und 1000 annehmen. Sie als bloße Übergangszeit einzuschätzen, halten wir für falsch: denn gerade in ihr werden eine Anzahl der wichtigsten Grundlinien für die Zukunft gezogen. Gegenüber der Spätantike, so gesunken diese auch war, erscheint sie rauh und barbarisch; aber der müde Quietismus, der jene gekennzeichnet hatte, ist überwunden; eine Wandlung mit klarer und energischer Zielstrebigkeit ist im Gange. Wie überall in einer gesund sich entwickelnden Baukunst Erstens: Das Halbrund des Altarhauses von einem niedrigen Die Kunst des Mittelalters sich; das dreizehnte sah in der Baukunst, wie auf allen andernGebieten des mittelalterlichen Kultursystems die Höhe. Immer wird auch die Frühzeit für den Historiker kulturpsychologisch ein großes Interesse bewahren. Wir wollen als ihre Grenzen in ab- gerundeter Rechnung die Jahre 800 und 1000 annehmen. Sie als bloße Übergangszeit einzuschätzen, halten wir für falsch: denn gerade in ihr werden eine Anzahl der wichtigsten Grundlinien für die Zukunft gezogen. Gegenüber der Spätantike, so gesunken diese auch war, erscheint sie rauh und barbarisch; aber der müde Quietismus, der jene gekennzeichnet hatte, ist überwunden; eine Wandlung mit klarer und energischer Zielstrebigkeit ist im Gange. Wie überall in einer gesund sich entwickelnden Baukunst Erstens: Das Halbrund des Altarhauses von einem niedrigen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0022" n="8"/><fw place="top" type="header">Die Kunst des Mittelalters</fw><lb/> sich; das dreizehnte sah in der Baukunst, wie auf allen andern<lb/> Gebieten des mittelalterlichen Kultursystems die Höhe. Immer<lb/> wird auch die Frühzeit für den Historiker kulturpsychologisch ein<lb/> großes Interesse bewahren. Wir wollen als ihre Grenzen in ab-<lb/> gerundeter Rechnung die Jahre 800 und 1000 annehmen. Sie als<lb/> bloße Übergangszeit einzuschätzen, halten wir für falsch: denn<lb/> gerade in ihr werden eine Anzahl der wichtigsten Grundlinien<lb/> für die Zukunft gezogen. Gegenüber der Spätantike, so gesunken<lb/> diese auch war, erscheint sie rauh und barbarisch; aber der müde<lb/> Quietismus, der jene gekennzeichnet hatte, ist überwunden;<lb/> eine Wandlung mit klarer und energischer Zielstrebigkeit ist im<lb/> Gange.</p><lb/> <p>Wie überall in einer gesund sich entwickelnden Baukunst<lb/> gingen die praktischen sachlichen Forderungen auf dem Wege<lb/> voran. Die Kirche hatte ein Recht, sich als die Achse in der vom<lb/> großen Kaiser neugeschaffenen Welt zu fühlen, und es gehörte<lb/> zu den Mitteln ihrer Herrschaft, daß dieses dem Volke sichtbar<lb/> werden sollte, wo immer sie sich feierlich zur Darstellung brachte,<lb/> in den Formen des Gottesdienstes, in der Gestalt des Gotteshauses.<lb/> Vor allem war der Abstand zwischen Geistlichkeit und Volk in<lb/> der liturgischen Ordnung schärfer herauszukehren, nicht mehr<lb/> bloß durch Schranken und Vorhänge, sondern durch eine neue<lb/> Gliederung des Gebäudes selbst; die Zahl der Altäre mehrte sich;<lb/> Reliquienkult und Wallfahrten wurden ein großes Wesen; vor allem<lb/> die tonangebend an der Spitze der Baukunst stehenden Klöster<lb/> hatten ihre besonderen Bedürfnisse. Die heilige Grundgestalt des<lb/> Gotteshauses, die Basilika, wollte niemand antasten, aber man<lb/> machte ihren Grundriß reicher, zusammengesetzter. Die fol-<lb/> genden neuen Motive sind die wichtigsten:</p><lb/> <p>Erstens: Das Halbrund des Altarhauses von einem niedrigen<lb/> konzentrischen Seitenschiff umzogen, beide Raumteile durch<lb/> offene Bogenstellungen in Kommunikation; aus der Außenwand<lb/> kleine halbrunde Kapellen, radiant zum Kreiszentrum des inneren<lb/> Chors hervortretend. Diese Form — an welche älteren Vorformen<lb/> etwa anknüpfend, ist hier nicht zu erörtern — entstand spätestens<lb/> im 9. Jahrhundert in der großen Wallfahrtsbasilika zu Tours<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [8/0022]
Die Kunst des Mittelalters
sich; das dreizehnte sah in der Baukunst, wie auf allen andern
Gebieten des mittelalterlichen Kultursystems die Höhe. Immer
wird auch die Frühzeit für den Historiker kulturpsychologisch ein
großes Interesse bewahren. Wir wollen als ihre Grenzen in ab-
gerundeter Rechnung die Jahre 800 und 1000 annehmen. Sie als
bloße Übergangszeit einzuschätzen, halten wir für falsch: denn
gerade in ihr werden eine Anzahl der wichtigsten Grundlinien
für die Zukunft gezogen. Gegenüber der Spätantike, so gesunken
diese auch war, erscheint sie rauh und barbarisch; aber der müde
Quietismus, der jene gekennzeichnet hatte, ist überwunden;
eine Wandlung mit klarer und energischer Zielstrebigkeit ist im
Gange.
Wie überall in einer gesund sich entwickelnden Baukunst
gingen die praktischen sachlichen Forderungen auf dem Wege
voran. Die Kirche hatte ein Recht, sich als die Achse in der vom
großen Kaiser neugeschaffenen Welt zu fühlen, und es gehörte
zu den Mitteln ihrer Herrschaft, daß dieses dem Volke sichtbar
werden sollte, wo immer sie sich feierlich zur Darstellung brachte,
in den Formen des Gottesdienstes, in der Gestalt des Gotteshauses.
Vor allem war der Abstand zwischen Geistlichkeit und Volk in
der liturgischen Ordnung schärfer herauszukehren, nicht mehr
bloß durch Schranken und Vorhänge, sondern durch eine neue
Gliederung des Gebäudes selbst; die Zahl der Altäre mehrte sich;
Reliquienkult und Wallfahrten wurden ein großes Wesen; vor allem
die tonangebend an der Spitze der Baukunst stehenden Klöster
hatten ihre besonderen Bedürfnisse. Die heilige Grundgestalt des
Gotteshauses, die Basilika, wollte niemand antasten, aber man
machte ihren Grundriß reicher, zusammengesetzter. Die fol-
genden neuen Motive sind die wichtigsten:
Erstens: Das Halbrund des Altarhauses von einem niedrigen
konzentrischen Seitenschiff umzogen, beide Raumteile durch
offene Bogenstellungen in Kommunikation; aus der Außenwand
kleine halbrunde Kapellen, radiant zum Kreiszentrum des inneren
Chors hervortretend. Diese Form — an welche älteren Vorformen
etwa anknüpfend, ist hier nicht zu erörtern — entstand spätestens
im 9. Jahrhundert in der großen Wallfahrtsbasilika zu Tours
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