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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl

C. Ruland sieht einen untrüglichen Beweis für die Authen-
tizität der Weimarer Zeichnungen in ihren häufigen Pentimenti.
Hiergegen erlaube ich mir zu bemerken, daß ihr Verhandensein an
sich nichts beweist, da ebensogut ein Kopist in dieser Weise sich
verbessern kann. So wie die Pentimenti von W beschaffen sind,
beweisen sie geradezu das Gegenteil. Um das zu erkennen, worauf
ich hinauswill, bedarf es nicht einmal der Kenntnis der Originale,
sondern genügt es, die beigegebenen Reproduktionen zu vergleichen
(Taf. 15). Man wird da auf den ersten Blick eine starke Ver-
schiedenheit der Schädelproportionen im Sinne der Längsachse ge-
wahr werden und als Folge eine ebensogroße Verschiedenheit des
physiognomischen Ausdrucks: in St eine um einen Schritt nur von
der Karikatur entfernte Kühnheit und Macht der Charakteristik,
in W zahmes akademisches Durchschnittsmaß. Sieht man dann
schärfer hin, so bemerkt man, daß ursprünglich auch der Zeichner
von W dem Hinterkopf denselben stark ausladenden Kontur
gegeben hatte wie St, nachher jedoch ihn erheblich weiter nach
innen zog. Außerdem ist aber noch ein zweites Pentimento vor-
handen, am Ohr, und dieses ist beiden Exemplaren,
W und St, gemeinsam. Also hat W den Kopf genau so
gesehen, wie St, mit Einschluß des Pentimento am Ohr, nur
eben die Linie des Hinterkopfes verändert.

Aus diesem zwiefachen Verhältnis folgt unweigerlich: erstens,
daß W keine Originalstudie sein kann, zweitens, daß W nicht
einmal eine Kopie nach dem Gemälde ist, sondern einfach eine
Kopie von St, welches W gemäß einem akademischen Schönheits-
ideal willkürlich zu verbessern nicht hat unterlassen können.
Von den übrigen Pentimenti erlaubte ich mir schon zu sagen,
daß sie nach meinem Gefühl geistlos und roh seien. Aber noch
etwas anderes fällt an ihnen auf. Wer so viel Zeit und Mühe auf
den bildmäßigen Effekt seiner Arbeit verwendet, wie der Zeichner
von W, dem müßte es ein leichtes gewesen sein, die im ersten
Griff falsch geratenen Umrisse wegzuwischen; anstatt dessen
läßt er sie geradezu aufdringlich in die Augen springen, und was
das Bedenklichste ist, an mehreren Stellen (z. B. an der dem Petrus
gehörenden Hand auf dem Blatt mit Johannes) (Taf. 18) tritt

Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. 13
Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl

C. Ruland sieht einen untrüglichen Beweis für die Authen-
tizität der Weimarer Zeichnungen in ihren häufigen Pentimenti.
Hiergegen erlaube ich mir zu bemerken, daß ihr Verhandensein an
sich nichts beweist, da ebensogut ein Kopist in dieser Weise sich
verbessern kann. So wie die Pentimenti von W beschaffen sind,
beweisen sie geradezu das Gegenteil. Um das zu erkennen, worauf
ich hinauswill, bedarf es nicht einmal der Kenntnis der Originale,
sondern genügt es, die beigegebenen Reproduktionen zu vergleichen
(Taf. 15). Man wird da auf den ersten Blick eine starke Ver-
schiedenheit der Schädelproportionen im Sinne der Längsachse ge-
wahr werden und als Folge eine ebensogroße Verschiedenheit des
physiognomischen Ausdrucks: in St eine um einen Schritt nur von
der Karikatur entfernte Kühnheit und Macht der Charakteristik,
in W zahmes akademisches Durchschnittsmaß. Sieht man dann
schärfer hin, so bemerkt man, daß ursprünglich auch der Zeichner
von W dem Hinterkopf denselben stark ausladenden Kontur
gegeben hatte wie St, nachher jedoch ihn erheblich weiter nach
innen zog. Außerdem ist aber noch ein zweites Pentimento vor-
handen, am Ohr, und dieses ist beiden Exemplaren,
W und St, gemeinsam. Also hat W den Kopf genau so
gesehen, wie St, mit Einschluß des Pentimento am Ohr, nur
eben die Linie des Hinterkopfes verändert.

Aus diesem zwiefachen Verhältnis folgt unweigerlich: erstens,
daß W keine Originalstudie sein kann, zweitens, daß W nicht
einmal eine Kopie nach dem Gemälde ist, sondern einfach eine
Kopie von St, welches W gemäß einem akademischen Schönheits-
ideal willkürlich zu verbessern nicht hat unterlassen können.
Von den übrigen Pentimenti erlaubte ich mir schon zu sagen,
daß sie nach meinem Gefühl geistlos und roh seien. Aber noch
etwas anderes fällt an ihnen auf. Wer so viel Zeit und Mühe auf
den bildmäßigen Effekt seiner Arbeit verwendet, wie der Zeichner
von W, dem müßte es ein leichtes gewesen sein, die im ersten
Griff falsch geratenen Umrisse wegzuwischen; anstatt dessen
läßt er sie geradezu aufdringlich in die Augen springen, und was
das Bedenklichste ist, an mehreren Stellen (z. B. an der dem Petrus
gehörenden Hand auf dem Blatt mit Johannes) (Taf. 18) tritt

Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. 13
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[193/0235] Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl C. Ruland sieht einen untrüglichen Beweis für die Authen- tizität der Weimarer Zeichnungen in ihren häufigen Pentimenti. Hiergegen erlaube ich mir zu bemerken, daß ihr Verhandensein an sich nichts beweist, da ebensogut ein Kopist in dieser Weise sich verbessern kann. So wie die Pentimenti von W beschaffen sind, beweisen sie geradezu das Gegenteil. Um das zu erkennen, worauf ich hinauswill, bedarf es nicht einmal der Kenntnis der Originale, sondern genügt es, die beigegebenen Reproduktionen zu vergleichen (Taf. 15). Man wird da auf den ersten Blick eine starke Ver- schiedenheit der Schädelproportionen im Sinne der Längsachse ge- wahr werden und als Folge eine ebensogroße Verschiedenheit des physiognomischen Ausdrucks: in St eine um einen Schritt nur von der Karikatur entfernte Kühnheit und Macht der Charakteristik, in W zahmes akademisches Durchschnittsmaß. Sieht man dann schärfer hin, so bemerkt man, daß ursprünglich auch der Zeichner von W dem Hinterkopf denselben stark ausladenden Kontur gegeben hatte wie St, nachher jedoch ihn erheblich weiter nach innen zog. Außerdem ist aber noch ein zweites Pentimento vor- handen, am Ohr, und dieses ist beiden Exemplaren, W und St, gemeinsam. Also hat W den Kopf genau so gesehen, wie St, mit Einschluß des Pentimento am Ohr, nur eben die Linie des Hinterkopfes verändert. Aus diesem zwiefachen Verhältnis folgt unweigerlich: erstens, daß W keine Originalstudie sein kann, zweitens, daß W nicht einmal eine Kopie nach dem Gemälde ist, sondern einfach eine Kopie von St, welches W gemäß einem akademischen Schönheits- ideal willkürlich zu verbessern nicht hat unterlassen können. Von den übrigen Pentimenti erlaubte ich mir schon zu sagen, daß sie nach meinem Gefühl geistlos und roh seien. Aber noch etwas anderes fällt an ihnen auf. Wer so viel Zeit und Mühe auf den bildmäßigen Effekt seiner Arbeit verwendet, wie der Zeichner von W, dem müßte es ein leichtes gewesen sein, die im ersten Griff falsch geratenen Umrisse wegzuwischen; anstatt dessen läßt er sie geradezu aufdringlich in die Augen springen, und was das Bedenklichste ist, an mehreren Stellen (z. B. an der dem Petrus gehörenden Hand auf dem Blatt mit Johannes) (Taf. 18) tritt Dehio, Kunsthistorische Aufsätze. 13

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/235>, abgerufen am 04.12.2024.