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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Zur Geschichte der Buchstaben-Reform in der Renaissance
antiqua"; durch Messung vieler Steininschriften in Rom habe er
deren Richtigkeit erprobt. Nun versucht er aber gar nicht ihre
Anwendung, sondern die Schriftmuster, die er gibt, sind einfach
Kopien nach antiken Inschriftsteinen, durch die Facettierung
noch deutlich auf diesen empirischen Ursprung hinweisend. Hier-
nach scheint mir, daß Feliciano, da von direkter Benutzung der
für Pacioli und Dürer maßgebend gewordenen Schrift nichts
sichtbar wird, von dem Prinzipe des tondo e quadro durch irgend-
eine Mittelsperson zwar Nachricht erhalten hat, aber nur in un-
bestimmten Umrissen. -- --

Im zweiten und vollends im dritten Viertel des 16. Jahrhun-
derts treten die Anweisungen zur Formung der Lettern sehr zahl-
reich auf dem Büchermarkte auf. Vornehmlich auf Brauchbarkeit
in der Praxis der Kalligraphen, Schriftgießer, Steinmetzen usw.
ausgehend, bieten sie doch manches Interessante zur Kenntnis der
allgemeinen Kunstanschauung ihrer Zeit, so z. B. die Einschachte-
lung in die fünf Säulenordnungen1). Bei weitem das merkwürdigste
Spezimen dieser Literatur ist der in Paris 1529, in zweiter Auflage
1549 erschienene "Champ Fleury, auquel est contenu l'art et
science de la deve et vraye proportion des lettres Attiques qu'on
dit autrement Antiques et vulgairement Romaines, selon le corps
et visage humain etc. etc. par maistre Geoffroy Tory de Bour-
ges
". Unter einer Anhäufung abstrusester Gelehrsamkeit und phan-
tasievoll-unsinniger Symbolik bietet das wunderliche, seinerzeit
hochgeschätzte Buch manchen guten Gedanken, manche dem
Historiker willkommene Notiz. Darunter fand ich eine, welche,
nach langem vergeblichen Suchen zu angenehmster Überraschung,
die obigen Erörterungen in ein neues Licht rückt, ihnen ein weiter-
reichendes Interesse verleiht, als nach dem bisherigen zu erwarten
war. Es ist die Stelle Fol. 27: "Frere Lucas Paciol de bourg sainct
Sepulchre, de l'ordre des freres mineurs et Theologien, qui a faict

1) Die früheste Anwendung finde ich in "Ain gute Aussthailung der
der Römischen oder Lateinischen Buchstaben Menniglich zu nutz durch
Wolfgang Fugger Burger zu Nürnberg in Truck verordnet a. 1553".
Dann im deutschen Serlio von 1609; in den italienischen Ausgaben merk-
würdigerweise nicht.

Zur Geschichte der Buchstaben-Reform in der Renaissance
antiqua«; durch Messung vieler Steininschriften in Rom habe er
deren Richtigkeit erprobt. Nun versucht er aber gar nicht ihre
Anwendung, sondern die Schriftmuster, die er gibt, sind einfach
Kopien nach antiken Inschriftsteinen, durch die Facettierung
noch deutlich auf diesen empirischen Ursprung hinweisend. Hier-
nach scheint mir, daß Feliciano, da von direkter Benutzung der
für Pacioli und Dürer maßgebend gewordenen Schrift nichts
sichtbar wird, von dem Prinzipe des tondo e quadro durch irgend-
eine Mittelsperson zwar Nachricht erhalten hat, aber nur in un-
bestimmten Umrissen. — —

Im zweiten und vollends im dritten Viertel des 16. Jahrhun-
derts treten die Anweisungen zur Formung der Lettern sehr zahl-
reich auf dem Büchermarkte auf. Vornehmlich auf Brauchbarkeit
in der Praxis der Kalligraphen, Schriftgießer, Steinmetzen usw.
ausgehend, bieten sie doch manches Interessante zur Kenntnis der
allgemeinen Kunstanschauung ihrer Zeit, so z. B. die Einschachte-
lung in die fünf Säulenordnungen1). Bei weitem das merkwürdigste
Spezimen dieser Literatur ist der in Paris 1529, in zweiter Auflage
1549 erschienene »Champ Fleury, auquel est contenu l'art et
science de la deve et vraye proportion des lettres Attiques qu'on
dit autrement Antiques et vulgairement Romaines, selon le corps
et visage humain etc. etc. par maistre Geoffroy Tory de Bour-
ges
«. Unter einer Anhäufung abstrusester Gelehrsamkeit und phan-
tasievoll-unsinniger Symbolik bietet das wunderliche, seinerzeit
hochgeschätzte Buch manchen guten Gedanken, manche dem
Historiker willkommene Notiz. Darunter fand ich eine, welche,
nach langem vergeblichen Suchen zu angenehmster Überraschung,
die obigen Erörterungen in ein neues Licht rückt, ihnen ein weiter-
reichendes Interesse verleiht, als nach dem bisherigen zu erwarten
war. Es ist die Stelle Fol. 27: »Frere Lucas Paciol de bourg sainct
Sepulchre, de l'ordre des freres mineurs et Theologien, qui a faict

1) Die früheste Anwendung finde ich in »Ain gute Aussthailung der
der Römischen oder Lateinischen Buchstaben Menniglich zu nutz durch
Wolfgang Fugger Burger zu Nürnberg in Truck verordnet a. 1553«.
Dann im deutschen Serlio von 1609; in den italienischen Ausgaben merk-
würdigerweise nicht.
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[207/0259] Zur Geschichte der Buchstaben-Reform in der Renaissance antiqua«; durch Messung vieler Steininschriften in Rom habe er deren Richtigkeit erprobt. Nun versucht er aber gar nicht ihre Anwendung, sondern die Schriftmuster, die er gibt, sind einfach Kopien nach antiken Inschriftsteinen, durch die Facettierung noch deutlich auf diesen empirischen Ursprung hinweisend. Hier- nach scheint mir, daß Feliciano, da von direkter Benutzung der für Pacioli und Dürer maßgebend gewordenen Schrift nichts sichtbar wird, von dem Prinzipe des tondo e quadro durch irgend- eine Mittelsperson zwar Nachricht erhalten hat, aber nur in un- bestimmten Umrissen. — — Im zweiten und vollends im dritten Viertel des 16. Jahrhun- derts treten die Anweisungen zur Formung der Lettern sehr zahl- reich auf dem Büchermarkte auf. Vornehmlich auf Brauchbarkeit in der Praxis der Kalligraphen, Schriftgießer, Steinmetzen usw. ausgehend, bieten sie doch manches Interessante zur Kenntnis der allgemeinen Kunstanschauung ihrer Zeit, so z. B. die Einschachte- lung in die fünf Säulenordnungen 1). Bei weitem das merkwürdigste Spezimen dieser Literatur ist der in Paris 1529, in zweiter Auflage 1549 erschienene »Champ Fleury, auquel est contenu l'art et science de la deve et vraye proportion des lettres Attiques qu'on dit autrement Antiques et vulgairement Romaines, selon le corps et visage humain etc. etc. par maistre Geoffroy Tory de Bour- ges«. Unter einer Anhäufung abstrusester Gelehrsamkeit und phan- tasievoll-unsinniger Symbolik bietet das wunderliche, seinerzeit hochgeschätzte Buch manchen guten Gedanken, manche dem Historiker willkommene Notiz. Darunter fand ich eine, welche, nach langem vergeblichen Suchen zu angenehmster Überraschung, die obigen Erörterungen in ein neues Licht rückt, ihnen ein weiter- reichendes Interesse verleiht, als nach dem bisherigen zu erwarten war. Es ist die Stelle Fol. 27: »Frere Lucas Paciol de bourg sainct Sepulchre, de l'ordre des freres mineurs et Theologien, qui a faict 1) Die früheste Anwendung finde ich in »Ain gute Aussthailung der der Römischen oder Lateinischen Buchstaben Menniglich zu nutz durch Wolfgang Fugger Burger zu Nürnberg in Truck verordnet a. 1553«. Dann im deutschen Serlio von 1609; in den italienischen Ausgaben merk- würdigerweise nicht.

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/259>, abgerufen am 24.11.2024.