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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Rivalität zwischen Raphael und Michelangelo
prüfen müssen, als bisher geschehen ist und leider mit der uner-
freulichen Aussicht, daß einer von beiden schlecht dabei fahren muß:
Raphael, wenn sie sich als wahr, Michelangelo, wenn sie sich als
erfunden erweist.

Ohne weiteres falsch ist es, wenn Vasari den hinterlistigen Ein-
bruch in die Kapelle in die Zeit von Michelangelos Flucht nach
Florenz verlegt. Damals (1506) war Raphael noch nicht in Rom
und hatte Michelangelo in der Sistina zu malen noch nicht begonnen.
Aber allerdings lag der Ursprung der Feindschaft mit Bramante
in jener Zeit: die Grundsteinlegung zur neuen Peterskirche brachte
das Juliusdenkmal zu Fall. Ist also die Kombination falsch, ob
durch Vasaris eigene Schuld oder die seines Gewährsmannes, in dem
Kern der Geschichte könnte immerhin etwas Wahres sein. Vergessen
wir nicht: Michelangelo selbst hat in seinem Alter an sie geglaubt.
Da uns in der äußeren Überlieferung weitere Kontrollmittel nicht
gegeben sind, wird es um so nötiger sein, das Corpus delicti, nämlich
das Bild in Sant' Agostino (Taf. 20), eingehend zu prüfen.

Der Prophet ist sitzend dargestellt, eine Schriftrolle in beiden
Händen; wie von einer plötzlichen Inspiration durchschauert
läßt er die Rolle halb sinken, wendet den Kopf nach der entgegen-
gesetzten Seite; den rechten Arm läßt er in erhobener Haltung
beharren, das linke Bein zieht er an, als wolle er im nächsten Augen-
blick emporschnellen: das Ganze ein durchaus im Sinne der plasti-
schen Kunst erfundenes Motiv. Als Begleiter zwei nackte Knaben,
auf den Seitenlehnen der Steinbank, stehend, mit erhobenen Armen
eine Inschriftentafel über dem Kopfe des Propheten haltend, eine
Laubgirlande von Schulter zu Schulter.

Der Eindruck, den das Bild auf uns macht, ist heute noch der-
selbe, den Vasari davon hatte: das ist nicht Raphaels, es ist Michel-
angelos Art! Seine Bedeutung wird durch den Hinweis A. Springers,
daß ein Anhänger Michelangelos, Daniele da Volterra, die erste
Restauration vorgenommen habe, nicht abgeschwächt, da Vasari das
Bild vor der Herstellung gesehen hat, welche erst unter Papst Paul IV.
(1555--59) vorgenommen wurde. In der Tat, von der Art der Zu-
sammenordnung des Propheten mit dem Paare knabenhafter Genien
bis zu der Durchbildung des Contraposto in der Bewegung der Haupt-

Die Rivalität zwischen Raphael und Michelangelo
prüfen müssen, als bisher geschehen ist und leider mit der uner-
freulichen Aussicht, daß einer von beiden schlecht dabei fahren muß:
Raphael, wenn sie sich als wahr, Michelangelo, wenn sie sich als
erfunden erweist.

Ohne weiteres falsch ist es, wenn Vasari den hinterlistigen Ein-
bruch in die Kapelle in die Zeit von Michelangelos Flucht nach
Florenz verlegt. Damals (1506) war Raphael noch nicht in Rom
und hatte Michelangelo in der Sistina zu malen noch nicht begonnen.
Aber allerdings lag der Ursprung der Feindschaft mit Bramante
in jener Zeit: die Grundsteinlegung zur neuen Peterskirche brachte
das Juliusdenkmal zu Fall. Ist also die Kombination falsch, ob
durch Vasaris eigene Schuld oder die seines Gewährsmannes, in dem
Kern der Geschichte könnte immerhin etwas Wahres sein. Vergessen
wir nicht: Michelangelo selbst hat in seinem Alter an sie geglaubt.
Da uns in der äußeren Überlieferung weitere Kontrollmittel nicht
gegeben sind, wird es um so nötiger sein, das Corpus delicti, nämlich
das Bild in Sant' Agostino (Taf. 20), eingehend zu prüfen.

Der Prophet ist sitzend dargestellt, eine Schriftrolle in beiden
Händen; wie von einer plötzlichen Inspiration durchschauert
läßt er die Rolle halb sinken, wendet den Kopf nach der entgegen-
gesetzten Seite; den rechten Arm läßt er in erhobener Haltung
beharren, das linke Bein zieht er an, als wolle er im nächsten Augen-
blick emporschnellen: das Ganze ein durchaus im Sinne der plasti-
schen Kunst erfundenes Motiv. Als Begleiter zwei nackte Knaben,
auf den Seitenlehnen der Steinbank, stehend, mit erhobenen Armen
eine Inschriftentafel über dem Kopfe des Propheten haltend, eine
Laubgirlande von Schulter zu Schulter.

Der Eindruck, den das Bild auf uns macht, ist heute noch der-
selbe, den Vasari davon hatte: das ist nicht Raphaels, es ist Michel-
angelos Art! Seine Bedeutung wird durch den Hinweis A. Springers,
daß ein Anhänger Michelangelos, Daniele da Volterra, die erste
Restauration vorgenommen habe, nicht abgeschwächt, da Vasari das
Bild vor der Herstellung gesehen hat, welche erst unter Papst Paul IV.
(1555—59) vorgenommen wurde. In der Tat, von der Art der Zu-
sammenordnung des Propheten mit dem Paare knabenhafter Genien
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[214/0266] Die Rivalität zwischen Raphael und Michelangelo prüfen müssen, als bisher geschehen ist und leider mit der uner- freulichen Aussicht, daß einer von beiden schlecht dabei fahren muß: Raphael, wenn sie sich als wahr, Michelangelo, wenn sie sich als erfunden erweist. Ohne weiteres falsch ist es, wenn Vasari den hinterlistigen Ein- bruch in die Kapelle in die Zeit von Michelangelos Flucht nach Florenz verlegt. Damals (1506) war Raphael noch nicht in Rom und hatte Michelangelo in der Sistina zu malen noch nicht begonnen. Aber allerdings lag der Ursprung der Feindschaft mit Bramante in jener Zeit: die Grundsteinlegung zur neuen Peterskirche brachte das Juliusdenkmal zu Fall. Ist also die Kombination falsch, ob durch Vasaris eigene Schuld oder die seines Gewährsmannes, in dem Kern der Geschichte könnte immerhin etwas Wahres sein. Vergessen wir nicht: Michelangelo selbst hat in seinem Alter an sie geglaubt. Da uns in der äußeren Überlieferung weitere Kontrollmittel nicht gegeben sind, wird es um so nötiger sein, das Corpus delicti, nämlich das Bild in Sant' Agostino (Taf. 20), eingehend zu prüfen. Der Prophet ist sitzend dargestellt, eine Schriftrolle in beiden Händen; wie von einer plötzlichen Inspiration durchschauert läßt er die Rolle halb sinken, wendet den Kopf nach der entgegen- gesetzten Seite; den rechten Arm läßt er in erhobener Haltung beharren, das linke Bein zieht er an, als wolle er im nächsten Augen- blick emporschnellen: das Ganze ein durchaus im Sinne der plasti- schen Kunst erfundenes Motiv. Als Begleiter zwei nackte Knaben, auf den Seitenlehnen der Steinbank, stehend, mit erhobenen Armen eine Inschriftentafel über dem Kopfe des Propheten haltend, eine Laubgirlande von Schulter zu Schulter. Der Eindruck, den das Bild auf uns macht, ist heute noch der- selbe, den Vasari davon hatte: das ist nicht Raphaels, es ist Michel- angelos Art! Seine Bedeutung wird durch den Hinweis A. Springers, daß ein Anhänger Michelangelos, Daniele da Volterra, die erste Restauration vorgenommen habe, nicht abgeschwächt, da Vasari das Bild vor der Herstellung gesehen hat, welche erst unter Papst Paul IV. (1555—59) vorgenommen wurde. In der Tat, von der Art der Zu- sammenordnung des Propheten mit dem Paare knabenhafter Genien bis zu der Durchbildung des Contraposto in der Bewegung der Haupt-

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/266>, abgerufen am 24.11.2024.