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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Zum Gedächtnis
Schule sich anschloß, vollends vor jeder Kameraderie in wissen-
schaftlichen Dingen einen tiefen Abscheu hatte, so bereitete ihm,
dem geborenen und höchstbegabten Schriftsteller, der Gedanke,
vors Publikum zu treten, ein tiefes, oft unüberwindliches Unbe-
hagen. Er wollte von den Dingen, die ihm die wertesten waren,
"lieber in Ehrfurcht schweigen, als auf die Straße herabsteigen oder
auf die Dächer treten, wo so laut und mit so viel Dünkel geredet
wird". Nicht das Publikum, dem er mißtraute, ist an dem späten
Eintritt seiner Erfolge schuld, er hat es selbst nicht anders gewollt.
Ohne starkes Drängen seiner Freunde hätte er vielleicht keines
seiner Manuskripte je druckfertig gemacht, und auch dieses hätte
nicht genügt, wäre nicht in dem Gelehrten ein großes Stück von
einem Künstler gewesen; den Künstler aber zwingt seine Natur,
seine Gedanken in Form zu bringen, rund und fertig hinzustellen.
Erst Hehns Nachlaß hat unsern erstaunten Blicken den Umfang
der wissenschaftlichen Pläne, mit denen er sich trug, enthüllt. In
dieser Fülle ist aber nichts von Unruhe. Seine weit verzweigte Ge-
dankenwelt ist durchaus organisch beschaffen; alles ist in ihr zu-
sammenhängend; zu dem, was er in der Muße oder Abschieds-
stimmung des hohen Alters niederschrieb, finden sich die Ansätze
schon in der Arbeit des Jünglings und jungen Mannes.

Keine Frage, das Schicksal, das Hehn zum Livländer machte,
hat ihn manche Entbehrungen kosten lassen und ist Ursache ge-
worden, daß nicht alles zur Reife kam, was seine Anlage versprach;
aber der Originalität seines Geistes und der Selbständigkeit seiner
Anschauungen ist es günstig gewesen. Es hat ihn nicht verhindert,
einer der wenigen zu werden, die man in der deutschen Literatur
des 19. Jahrhunderts zu den Klassikern rechnet. Eben das ist an
diesem Sprößling einer weit unter fremde Völker vorgeschobenen
Kolonistengesellschaft das Überraschende, daß er ein so voll-
endet gutes und schönes Deutsch schrieb, ja, daß ihm schon in
seinen Jugendbriefen dies möglich war; Kulturdeutsch selbstver-
ständlich, kein bodenwüchsiges; aber durch Stärke des sprach-
künstlerischen Empfindens zu voller Natürlichkeit zurückgeführt.
Es setzt dies selbstverständlich eine große Begabung voraus, doch
gestattet es auch Rückschlüsse auf das gesprochene Deutsch in

Zum Gedächtnis
Schule sich anschloß, vollends vor jeder Kameraderie in wissen-
schaftlichen Dingen einen tiefen Abscheu hatte, so bereitete ihm,
dem geborenen und höchstbegabten Schriftsteller, der Gedanke,
vors Publikum zu treten, ein tiefes, oft unüberwindliches Unbe-
hagen. Er wollte von den Dingen, die ihm die wertesten waren,
»lieber in Ehrfurcht schweigen, als auf die Straße herabsteigen oder
auf die Dächer treten, wo so laut und mit so viel Dünkel geredet
wird«. Nicht das Publikum, dem er mißtraute, ist an dem späten
Eintritt seiner Erfolge schuld, er hat es selbst nicht anders gewollt.
Ohne starkes Drängen seiner Freunde hätte er vielleicht keines
seiner Manuskripte je druckfertig gemacht, und auch dieses hätte
nicht genügt, wäre nicht in dem Gelehrten ein großes Stück von
einem Künstler gewesen; den Künstler aber zwingt seine Natur,
seine Gedanken in Form zu bringen, rund und fertig hinzustellen.
Erst Hehns Nachlaß hat unsern erstaunten Blicken den Umfang
der wissenschaftlichen Pläne, mit denen er sich trug, enthüllt. In
dieser Fülle ist aber nichts von Unruhe. Seine weit verzweigte Ge-
dankenwelt ist durchaus organisch beschaffen; alles ist in ihr zu-
sammenhängend; zu dem, was er in der Muße oder Abschieds-
stimmung des hohen Alters niederschrieb, finden sich die Ansätze
schon in der Arbeit des Jünglings und jungen Mannes.

Keine Frage, das Schicksal, das Hehn zum Livländer machte,
hat ihn manche Entbehrungen kosten lassen und ist Ursache ge-
worden, daß nicht alles zur Reife kam, was seine Anlage versprach;
aber der Originalität seines Geistes und der Selbständigkeit seiner
Anschauungen ist es günstig gewesen. Es hat ihn nicht verhindert,
einer der wenigen zu werden, die man in der deutschen Literatur
des 19. Jahrhunderts zu den Klassikern rechnet. Eben das ist an
diesem Sprößling einer weit unter fremde Völker vorgeschobenen
Kolonistengesellschaft das Überraschende, daß er ein so voll-
endet gutes und schönes Deutsch schrieb, ja, daß ihm schon in
seinen Jugendbriefen dies möglich war; Kulturdeutsch selbstver-
ständlich, kein bodenwüchsiges; aber durch Stärke des sprach-
künstlerischen Empfindens zu voller Natürlichkeit zurückgeführt.
Es setzt dies selbstverständlich eine große Begabung voraus, doch
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[302/0364] Zum Gedächtnis Schule sich anschloß, vollends vor jeder Kameraderie in wissen- schaftlichen Dingen einen tiefen Abscheu hatte, so bereitete ihm, dem geborenen und höchstbegabten Schriftsteller, der Gedanke, vors Publikum zu treten, ein tiefes, oft unüberwindliches Unbe- hagen. Er wollte von den Dingen, die ihm die wertesten waren, »lieber in Ehrfurcht schweigen, als auf die Straße herabsteigen oder auf die Dächer treten, wo so laut und mit so viel Dünkel geredet wird«. Nicht das Publikum, dem er mißtraute, ist an dem späten Eintritt seiner Erfolge schuld, er hat es selbst nicht anders gewollt. Ohne starkes Drängen seiner Freunde hätte er vielleicht keines seiner Manuskripte je druckfertig gemacht, und auch dieses hätte nicht genügt, wäre nicht in dem Gelehrten ein großes Stück von einem Künstler gewesen; den Künstler aber zwingt seine Natur, seine Gedanken in Form zu bringen, rund und fertig hinzustellen. Erst Hehns Nachlaß hat unsern erstaunten Blicken den Umfang der wissenschaftlichen Pläne, mit denen er sich trug, enthüllt. In dieser Fülle ist aber nichts von Unruhe. Seine weit verzweigte Ge- dankenwelt ist durchaus organisch beschaffen; alles ist in ihr zu- sammenhängend; zu dem, was er in der Muße oder Abschieds- stimmung des hohen Alters niederschrieb, finden sich die Ansätze schon in der Arbeit des Jünglings und jungen Mannes. Keine Frage, das Schicksal, das Hehn zum Livländer machte, hat ihn manche Entbehrungen kosten lassen und ist Ursache ge- worden, daß nicht alles zur Reife kam, was seine Anlage versprach; aber der Originalität seines Geistes und der Selbständigkeit seiner Anschauungen ist es günstig gewesen. Es hat ihn nicht verhindert, einer der wenigen zu werden, die man in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts zu den Klassikern rechnet. Eben das ist an diesem Sprößling einer weit unter fremde Völker vorgeschobenen Kolonistengesellschaft das Überraschende, daß er ein so voll- endet gutes und schönes Deutsch schrieb, ja, daß ihm schon in seinen Jugendbriefen dies möglich war; Kulturdeutsch selbstver- ständlich, kein bodenwüchsiges; aber durch Stärke des sprach- künstlerischen Empfindens zu voller Natürlichkeit zurückgeführt. Es setzt dies selbstverständlich eine große Begabung voraus, doch gestattet es auch Rückschlüsse auf das gesprochene Deutsch in

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/364>, abgerufen am 23.11.2024.