Der gotische Stil nimmt seinen Ausgang vom konstruktiven Gebiet, und zwar von einer bestimmten Einzelfrage. Wie ist die Form des Kreuzgewölbes gemäß den Bedingungen des basilikalen Aufbaues zu verbessern? Zugleich materiell fester und formell biegsamer zu machen? Das vollentwickelte gotische Gebäude ist in seiner Erscheinung unsäglich kompliziert, und doch sind die Grundgedanken einfach und von so geschlossener Fügung, daß sie sich in eine kurze, dreigliedrige Formel zusammenfassen lassen: Konzentration des Gewölbedruckes auf die Eckpunkte mittels selbständig gemauerter Diagonal- und Randbögen; Einführung des Spitzbogens als desjenigen, der den geringsten Seitenschub ergibt und für das Verhältnis von Grundlinie zu Scheitelhöhe freie Wahl gestattet; Widerlagerung durch ein selbständiges Strebesystem. Einzeln waren diese Formen schon alle, auch der Spitzbogen, in der romanischen Baukunst verschiedener franzö- sischer Schulen vorgekommen, das Neue liegt in ihrer Verbindung. Daraus entwickeln sich alle übrigen Eigenschaften des Systems mit fast naturgesetzlicher Folgerichtigkeit. Wurden die tragenden Mauern für die Last des Gewölbes nur intermittierend von Punkt zu Punkt in Anspruch genommen und wurde an jedem Punkt der auf ihn wirkende Druck in eine seitliche und eine senkrechte Komponente gespalten, so daß nur noch die letztere in Frage kam, dann konnte auch die Mauer, ähnlich wie schon das Ge- wölbe, zerlegt werden in aktive und passive Bestandteile, in solche, welche struktive Arbeit leisten und solche, welche lediglich zum Raumabschluß dienen. Die letzteren sind für die Stabilität des Gebäudes entbehrlich. Sie werden angewendet, nur wo andere Zwecke es erheischen, vor allem an der Decke; dagegen die Wände, welche jetzt nur noch Füllungen zwischen Pfeilern sind, können so vollständig von den Fensteröffnungen absorbiert werden, wie man jeweils für gut befindet. Es war gleichsam eine Ehrenfrage für das System, darin bis an die letzte Grenze zu gehen. Gewiß hätte man sich soweit nicht vorgewagt, hätte nicht eine andere inzwischen ebenfalls vervollkommnete Technik ihre Dienste an- geboten: die Glasfabrikation. Das Korrelat zur Auflösung der Steinwände ist ihr Ersatz durch Glaswände. Sie sollen aber nicht
Die Kunst des Mittelalters
Der gotische Stil nimmt seinen Ausgang vom konstruktiven Gebiet, und zwar von einer bestimmten Einzelfrage. Wie ist die Form des Kreuzgewölbes gemäß den Bedingungen des basilikalen Aufbaues zu verbessern? Zugleich materiell fester und formell biegsamer zu machen? Das vollentwickelte gotische Gebäude ist in seiner Erscheinung unsäglich kompliziert, und doch sind die Grundgedanken einfach und von so geschlossener Fügung, daß sie sich in eine kurze, dreigliedrige Formel zusammenfassen lassen: Konzentration des Gewölbedruckes auf die Eckpunkte mittels selbständig gemauerter Diagonal- und Randbögen; Einführung des Spitzbogens als desjenigen, der den geringsten Seitenschub ergibt und für das Verhältnis von Grundlinie zu Scheitelhöhe freie Wahl gestattet; Widerlagerung durch ein selbständiges Strebesystem. Einzeln waren diese Formen schon alle, auch der Spitzbogen, in der romanischen Baukunst verschiedener franzö- sischer Schulen vorgekommen, das Neue liegt in ihrer Verbindung. Daraus entwickeln sich alle übrigen Eigenschaften des Systems mit fast naturgesetzlicher Folgerichtigkeit. Wurden die tragenden Mauern für die Last des Gewölbes nur intermittierend von Punkt zu Punkt in Anspruch genommen und wurde an jedem Punkt der auf ihn wirkende Druck in eine seitliche und eine senkrechte Komponente gespalten, so daß nur noch die letztere in Frage kam, dann konnte auch die Mauer, ähnlich wie schon das Ge- wölbe, zerlegt werden in aktive und passive Bestandteile, in solche, welche struktive Arbeit leisten und solche, welche lediglich zum Raumabschluß dienen. Die letzteren sind für die Stabilität des Gebäudes entbehrlich. Sie werden angewendet, nur wo andere Zwecke es erheischen, vor allem an der Decke; dagegen die Wände, welche jetzt nur noch Füllungen zwischen Pfeilern sind, können so vollständig von den Fensteröffnungen absorbiert werden, wie man jeweils für gut befindet. Es war gleichsam eine Ehrenfrage für das System, darin bis an die letzte Grenze zu gehen. Gewiß hätte man sich soweit nicht vorgewagt, hätte nicht eine andere inzwischen ebenfalls vervollkommnete Technik ihre Dienste an- geboten: die Glasfabrikation. Das Korrelat zur Auflösung der Steinwände ist ihr Ersatz durch Glaswände. Sie sollen aber nicht
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Die Kunst des Mittelalters
Der gotische Stil nimmt seinen Ausgang vom konstruktiven
Gebiet, und zwar von einer bestimmten Einzelfrage. Wie ist die
Form des Kreuzgewölbes gemäß den Bedingungen des basilikalen
Aufbaues zu verbessern? Zugleich materiell fester und formell
biegsamer zu machen? Das vollentwickelte gotische Gebäude ist
in seiner Erscheinung unsäglich kompliziert, und doch sind die
Grundgedanken einfach und von so geschlossener Fügung, daß sie
sich in eine kurze, dreigliedrige Formel zusammenfassen lassen:
Konzentration des Gewölbedruckes auf die Eckpunkte mittels
selbständig gemauerter Diagonal- und Randbögen; Einführung
des Spitzbogens als desjenigen, der den geringsten Seitenschub
ergibt und für das Verhältnis von Grundlinie zu Scheitelhöhe
freie Wahl gestattet; Widerlagerung durch ein selbständiges
Strebesystem. Einzeln waren diese Formen schon alle, auch der
Spitzbogen, in der romanischen Baukunst verschiedener franzö-
sischer Schulen vorgekommen, das Neue liegt in ihrer Verbindung.
Daraus entwickeln sich alle übrigen Eigenschaften des Systems
mit fast naturgesetzlicher Folgerichtigkeit. Wurden die tragenden
Mauern für die Last des Gewölbes nur intermittierend von Punkt
zu Punkt in Anspruch genommen und wurde an jedem Punkt
der auf ihn wirkende Druck in eine seitliche und eine senkrechte
Komponente gespalten, so daß nur noch die letztere in Frage
kam, dann konnte auch die Mauer, ähnlich wie schon das Ge-
wölbe, zerlegt werden in aktive und passive Bestandteile, in solche,
welche struktive Arbeit leisten und solche, welche lediglich zum
Raumabschluß dienen. Die letzteren sind für die Stabilität des
Gebäudes entbehrlich. Sie werden angewendet, nur wo andere
Zwecke es erheischen, vor allem an der Decke; dagegen die Wände,
welche jetzt nur noch Füllungen zwischen Pfeilern sind, können
so vollständig von den Fensteröffnungen absorbiert werden, wie
man jeweils für gut befindet. Es war gleichsam eine Ehrenfrage
für das System, darin bis an die letzte Grenze zu gehen. Gewiß
hätte man sich soweit nicht vorgewagt, hätte nicht eine andere
inzwischen ebenfalls vervollkommnete Technik ihre Dienste an-
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/37>, abgerufen am 21.11.2024.
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