Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.Die Kunst des Mittelalters Stillstand herbeigeführt. Von 1270 ab ließen Bischöfe, welche dieGunst der Krone suchten, eine Reihe von Kathedralen in rein nordfranzösischem Stil durch nordfranzösische Meister errichten. Keine derselben gelangte weiter als bis zur Vollendung des Chores (Kathedralen von Toulouse, Narbonne u. a. m.). Erst ganz zum Schluß des 13. Jahrhunderts war das Selbstbewußtsein der Süd- länder soweit wieder belebt, daß sie das Bauwesen in die eigene Hand nahmen. Ihre erste Tat ist die Wiederherstellung des natio- nalen Kirchentypus, des einschiffigen Saales (Alby, Toulouse, Carcassonne, Perpignan; nahe verwandt einige besonders groß- artige Bauten in Katalonien). Er wird jetzt gotisch konstruiert, aber ästhetisch hat er mit der Gotik wenig gemein. Der mit schmalen Kreuzgewölben überdeckte, fast immer gewaltig große Raum wird eingeschlossen von breiten, nur durch magere Dienste schwach gegliederten Wandflächen, darin stehen in weiten Ab- ständen hohe schmale Fenster; der gotische Formenapparat ist auf ein weniges zusammengeschmolzen; das Äußere sieht festungs- artig aus, ist turmlos. Der Kunstgehalt dieser pseudogotischen Architektur liegt durchaus im Raumfaktor, nicht im Glieder- organismus. Ein spezifisch südliches, der Antike nahe gebliebenes Gefühl spricht daraus, in seiner trotzigen Proteststimmung freilich zum Herben und Harten gewendet. Dasselbe Gefühl, doch freudig und schwungvoll, lebt in der 3*
Die Kunst des Mittelalters Stillstand herbeigeführt. Von 1270 ab ließen Bischöfe, welche dieGunst der Krone suchten, eine Reihe von Kathedralen in rein nordfranzösischem Stil durch nordfranzösische Meister errichten. Keine derselben gelangte weiter als bis zur Vollendung des Chores (Kathedralen von Toulouse, Narbonne u. a. m.). Erst ganz zum Schluß des 13. Jahrhunderts war das Selbstbewußtsein der Süd- länder soweit wieder belebt, daß sie das Bauwesen in die eigene Hand nahmen. Ihre erste Tat ist die Wiederherstellung des natio- nalen Kirchentypus, des einschiffigen Saales (Alby, Toulouse, Carcassonne, Perpignan; nahe verwandt einige besonders groß- artige Bauten in Katalonien). Er wird jetzt gotisch konstruiert, aber ästhetisch hat er mit der Gotik wenig gemein. Der mit schmalen Kreuzgewölben überdeckte, fast immer gewaltig große Raum wird eingeschlossen von breiten, nur durch magere Dienste schwach gegliederten Wandflächen, darin stehen in weiten Ab- ständen hohe schmale Fenster; der gotische Formenapparat ist auf ein weniges zusammengeschmolzen; das Äußere sieht festungs- artig aus, ist turmlos. Der Kunstgehalt dieser pseudogotischen Architektur liegt durchaus im Raumfaktor, nicht im Glieder- organismus. Ein spezifisch südliches, der Antike nahe gebliebenes Gefühl spricht daraus, in seiner trotzigen Proteststimmung freilich zum Herben und Harten gewendet. Dasselbe Gefühl, doch freudig und schwungvoll, lebt in der 3*
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Die Kunst des Mittelalters
Stillstand herbeigeführt. Von 1270 ab ließen Bischöfe, welche die
Gunst der Krone suchten, eine Reihe von Kathedralen in rein
nordfranzösischem Stil durch nordfranzösische Meister errichten.
Keine derselben gelangte weiter als bis zur Vollendung des Chores
(Kathedralen von Toulouse, Narbonne u. a. m.). Erst ganz zum
Schluß des 13. Jahrhunderts war das Selbstbewußtsein der Süd-
länder soweit wieder belebt, daß sie das Bauwesen in die eigene
Hand nahmen. Ihre erste Tat ist die Wiederherstellung des natio-
nalen Kirchentypus, des einschiffigen Saales (Alby, Toulouse,
Carcassonne, Perpignan; nahe verwandt einige besonders groß-
artige Bauten in Katalonien). Er wird jetzt gotisch konstruiert,
aber ästhetisch hat er mit der Gotik wenig gemein. Der mit
schmalen Kreuzgewölben überdeckte, fast immer gewaltig große
Raum wird eingeschlossen von breiten, nur durch magere Dienste
schwach gegliederten Wandflächen, darin stehen in weiten Ab-
ständen hohe schmale Fenster; der gotische Formenapparat ist
auf ein weniges zusammengeschmolzen; das Äußere sieht festungs-
artig aus, ist turmlos. Der Kunstgehalt dieser pseudogotischen
Architektur liegt durchaus im Raumfaktor, nicht im Glieder-
organismus. Ein spezifisch südliches, der Antike nahe gebliebenes
Gefühl spricht daraus, in seiner trotzigen Proteststimmung freilich
zum Herben und Harten gewendet.
Dasselbe Gefühl, doch freudig und schwungvoll, lebt in der
italienischen Gotik. Viel älter als das, was man allein so nennen
darf, ist eine gotische Importkunst, die gleichsam nur zufällig
auf italienischem Boden steht, aber innerlich dem italienischen
Genius fremd bleibt. Sie wurde sehr früh, seit 1187, durch die
Zisterzienser eingeführt. Die umfänglichste Gruppe befindet sich
im Süden Roms, in den Volskerbergen und in den Abruzzen,
einzelne Denkmäler sind über die ganze Halbinsel zerstreut. Eine
zweite Gruppe steht in Zusammenhang mit den Kreuzfahrer-
bauten im heiligen Lande; zu ihr gehören die prachtvollen Schlösser,
die Kaiser Friedrich II. in Apulien und Sizilien errichten ließ.
Eine dritte, ohne Zusammenhang mit der vorigen, rührt von der
Eroberung Neapels durch die Anjou her. Sie alle vermochten
keinen lebensfähigen Nachwuchs zu erzeugen. Wirkliche Ein-
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