Lassen wir die Benennungsfrage einstweilen [beiseite]. Sach- lich enthält die These etwas unbestreitbar Wahres und [einen] wert- vollen Fortschritt der historischen Ansicht. Die Kunst des 15. Jahr- hunderts ist auch im Norden nicht mehr einfach Mittelalter, sie befindet sich zum italienischen Quattrocento nicht im Gegensatz, wie man es früher darzustellen liebte, sondern in Parallele. Indem wir dieses Sachverhältnis anerkennen -- und wer wird es nicht anerkennen? -- geben wir auch das Bedürfnis zu, ihm in der stil- geschichtlichen Terminologie einen passenden Ausdruck zu ver- schaffen. Über die Problemstellung also werden wir alle einig sein. Daß aber die vorgeschlagene Übertragung des Namens Renaissance eine gute Lösung sei, bestreite ich sehr entschieden.
Betrachten wir sie zuerst von der Zweckmäßigkeitsseite her. Da ist doch wohl eine der beherzigenswertesten Warnungen für jede wissenschaftliche Terminologie: quieta non movere. Wenn einem stilistischen Terminus, der lange Zeit unverändert im Ge- brauch gewesen ist -- in unserem Falle so lange, als es eine Kunst- wissenschaft gibt -- ein neuer Sachinhalt untergeschoben wird, so werden Mißverständnisse an der Tagesordnung sein, bis der ältere Sprachgebrauch völlig verdrängt ist. Schwerlich aber werden die Reformfreunde uns das in Aussicht stellen können. Wir werden es immer mit zwei Renaissancebegriffen zu tun haben, einem engeren (dem alten) und einem weiteren (dem neuen), und es wird eine stete Verlegenheit sein, wie man den Hörer oder Leser vor Verwechslung behüten soll. Eine vorhandene Terminologie verbessern heißt: sie verschärfen, verdeutlichen. Wir sind des- halb immer weiter in der Differenzierung gegangen. Wir unter- scheiden heute genau zwischen altchristlichem, byzantinischem, romanischem Stil, die vor 50 Jahren noch als Einheit erschienen; wir haben die süd- und nordniederländische Malerei trennen gelernt; wir haben uns bemüht, das Barock von der Renaissance zu son- dern und vom Barock das Rokoko und den Zopf. Was jetzt gefor- dert wird, ist das Gegenteil von Differenzierung. Indem die Grenzen der Renaissance einerseits tief ins Mittelalter zurückgeschoben, anderseits bis ans Ende des 18. Jahrhunderts vorgerückt werden, wird der ganze Begriff in eine andere Kategorie gestellt. Er umfaßt
Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
Lassen wir die Benennungsfrage einstweilen [beiseite]. Sach- lich enthält die These etwas unbestreitbar Wahres und [einen] wert- vollen Fortschritt der historischen Ansicht. Die Kunst des 15. Jahr- hunderts ist auch im Norden nicht mehr einfach Mittelalter, sie befindet sich zum italienischen Quattrocento nicht im Gegensatz, wie man es früher darzustellen liebte, sondern in Parallele. Indem wir dieses Sachverhältnis anerkennen — und wer wird es nicht anerkennen? — geben wir auch das Bedürfnis zu, ihm in der stil- geschichtlichen Terminologie einen passenden Ausdruck zu ver- schaffen. Über die Problemstellung also werden wir alle einig sein. Daß aber die vorgeschlagene Übertragung des Namens Renaissance eine gute Lösung sei, bestreite ich sehr entschieden.
Betrachten wir sie zuerst von der Zweckmäßigkeitsseite her. Da ist doch wohl eine der beherzigenswertesten Warnungen für jede wissenschaftliche Terminologie: quieta non movere. Wenn einem stilistischen Terminus, der lange Zeit unverändert im Ge- brauch gewesen ist — in unserem Falle so lange, als es eine Kunst- wissenschaft gibt — ein neuer Sachinhalt untergeschoben wird, so werden Mißverständnisse an der Tagesordnung sein, bis der ältere Sprachgebrauch völlig verdrängt ist. Schwerlich aber werden die Reformfreunde uns das in Aussicht stellen können. Wir werden es immer mit zwei Renaissancebegriffen zu tun haben, einem engeren (dem alten) und einem weiteren (dem neuen), und es wird eine stete Verlegenheit sein, wie man den Hörer oder Leser vor Verwechslung behüten soll. Eine vorhandene Terminologie verbessern heißt: sie verschärfen, verdeutlichen. Wir sind des- halb immer weiter in der Differenzierung gegangen. Wir unter- scheiden heute genau zwischen altchristlichem, byzantinischem, romanischem Stil, die vor 50 Jahren noch als Einheit erschienen; wir haben die süd- und nordniederländische Malerei trennen gelernt; wir haben uns bemüht, das Barock von der Renaissance zu son- dern und vom Barock das Rokoko und den Zopf. Was jetzt gefor- dert wird, ist das Gegenteil von Differenzierung. Indem die Grenzen der Renaissance einerseits tief ins Mittelalter zurückgeschoben, anderseits bis ans Ende des 18. Jahrhunderts vorgerückt werden, wird der ganze Begriff in eine andere Kategorie gestellt. Er umfaßt
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[52/0066]
Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
Lassen wir die Benennungsfrage einstweilen beiseite. Sach-
lich enthält die These etwas unbestreitbar Wahres und einen wert-
vollen Fortschritt der historischen Ansicht. Die Kunst des 15. Jahr-
hunderts ist auch im Norden nicht mehr einfach Mittelalter, sie
befindet sich zum italienischen Quattrocento nicht im Gegensatz,
wie man es früher darzustellen liebte, sondern in Parallele. Indem
wir dieses Sachverhältnis anerkennen — und wer wird es nicht
anerkennen? — geben wir auch das Bedürfnis zu, ihm in der stil-
geschichtlichen Terminologie einen passenden Ausdruck zu ver-
schaffen. Über die Problemstellung also werden wir alle einig
sein. Daß aber die vorgeschlagene Übertragung des Namens
Renaissance eine gute Lösung sei, bestreite ich sehr entschieden.
Betrachten wir sie zuerst von der Zweckmäßigkeitsseite her.
Da ist doch wohl eine der beherzigenswertesten Warnungen für
jede wissenschaftliche Terminologie: quieta non movere. Wenn
einem stilistischen Terminus, der lange Zeit unverändert im Ge-
brauch gewesen ist — in unserem Falle so lange, als es eine Kunst-
wissenschaft gibt — ein neuer Sachinhalt untergeschoben wird,
so werden Mißverständnisse an der Tagesordnung sein, bis der
ältere Sprachgebrauch völlig verdrängt ist. Schwerlich aber
werden die Reformfreunde uns das in Aussicht stellen können.
Wir werden es immer mit zwei Renaissancebegriffen zu tun haben,
einem engeren (dem alten) und einem weiteren (dem neuen), und es
wird eine stete Verlegenheit sein, wie man den Hörer oder Leser
vor Verwechslung behüten soll. Eine vorhandene Terminologie
verbessern heißt: sie verschärfen, verdeutlichen. Wir sind des-
halb immer weiter in der Differenzierung gegangen. Wir unter-
scheiden heute genau zwischen altchristlichem, byzantinischem,
romanischem Stil, die vor 50 Jahren noch als Einheit erschienen;
wir haben die süd- und nordniederländische Malerei trennen gelernt;
wir haben uns bemüht, das Barock von der Renaissance zu son-
dern und vom Barock das Rokoko und den Zopf. Was jetzt gefor-
dert wird, ist das Gegenteil von Differenzierung. Indem die Grenzen
der Renaissance einerseits tief ins Mittelalter zurückgeschoben,
anderseits bis ans Ende des 18. Jahrhunderts vorgerückt werden,
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/66>, abgerufen am 23.11.2024.
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