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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
ebenso einseitig, wie früher ihre Überschätzung. Es ist wahr:
unmittelbare Entlehnungen kommen nur in den tektonischen Kün-
sten vor; Malerei und Plastik sind davon beinahe frei. Aber ist denn
damit schon alles gesagt? Gibt es nicht auch freiere, indirekte
und imponderable Einflüsse? Wo Maler und Bildhauer in innigem
Einvernehmen, ja oft in Personalunion mit der Architektur ihre
Werke schufen, wie könnten sie von dem antiken Geiste unberührt
geblieben sein? Und dann der ganze Untergrund erblicher Stammes-
eigenschaften, welche die Italiener der Renaissance zu einem noch
halbantiken Volke, nach Jakob Burckhardts Ausdruck, machten.
Darum war eine Renaissance im eigentlichen organischen Sinne,
als eine aus den tiefsten Wurzeln der Nation kommende Bewegung,
nur in Italien möglich. Was man sonst mit dem unbestimmten
Ausdruck "reinere Schönheit" der italienischen Renaissance als
Vorzug vor der nordischen zugesteht, ist eben diese noch un-
verbrauchte Erb- und Stammesanlage. Dagegen war im Norden
der durch das ganze Mittelalter hindurchgegangene Strom antiker
Rezeption eben beim Eintritt in das 15. Jahrhundert bis auf den
letzten Tropfen aufgebraucht und vertrocknet. In keinem Jahr-
hundert, von Karl dem Großen bis auf Wilhelm I., ist die deutsche
Kunst von der antiken durch einen so weiten Abstand getrennt
gewesen wie in diesem. Das ist sicher mit ein Grund, weshalb
der italienischen Kunst die Überwindung des Mittelalters so viel
leichter und folgerichtiger gelang als der nordischen. In dieser
machte, nach kräftigstem Einsatz mit den Sluter und van Eyck,
das moderne Prinzip nur fragmentarische und stockende Fort-
schritte und am Ende des 15. Jahrhunderts waren Norden und
Süden weiter auseinander, als sie es am Anfang desselben gewesen
waren. Der Norden fühlte sich zurückgeblieben, der Realismus
allein hatte nicht genügt, ihn künstlerisch frei zu machen, er
setzte schließlich neue Hoffnungen auf die "antikischen Art".

Ich fasse zusammen: Die Bezeichnung Renaissance in dem
bisher üblichen Umfange ist unentbehrlich. Ein daneben aufkom-
mender zweiter Renaissancebegriff mit erweitertem Geltungs-
bereich wäre nichts als ein Spiel mit Worten, und ein durch seine
Zweideutigkeit verhängnisvolles. Wir sprechen ja von Renaissance

Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
ebenso einseitig, wie früher ihre Überschätzung. Es ist wahr:
unmittelbare Entlehnungen kommen nur in den tektonischen Kün-
sten vor; Malerei und Plastik sind davon beinahe frei. Aber ist denn
damit schon alles gesagt? Gibt es nicht auch freiere, indirekte
und imponderable Einflüsse? Wo Maler und Bildhauer in innigem
Einvernehmen, ja oft in Personalunion mit der Architektur ihre
Werke schufen, wie könnten sie von dem antiken Geiste unberührt
geblieben sein? Und dann der ganze Untergrund erblicher Stammes-
eigenschaften, welche die Italiener der Renaissance zu einem noch
halbantiken Volke, nach Jakob Burckhardts Ausdruck, machten.
Darum war eine Renaissance im eigentlichen organischen Sinne,
als eine aus den tiefsten Wurzeln der Nation kommende Bewegung,
nur in Italien möglich. Was man sonst mit dem unbestimmten
Ausdruck »reinere Schönheit« der italienischen Renaissance als
Vorzug vor der nordischen zugesteht, ist eben diese noch un-
verbrauchte Erb- und Stammesanlage. Dagegen war im Norden
der durch das ganze Mittelalter hindurchgegangene Strom antiker
Rezeption eben beim Eintritt in das 15. Jahrhundert bis auf den
letzten Tropfen aufgebraucht und vertrocknet. In keinem Jahr-
hundert, von Karl dem Großen bis auf Wilhelm I., ist die deutsche
Kunst von der antiken durch einen so weiten Abstand getrennt
gewesen wie in diesem. Das ist sicher mit ein Grund, weshalb
der italienischen Kunst die Überwindung des Mittelalters so viel
leichter und folgerichtiger gelang als der nordischen. In dieser
machte, nach kräftigstem Einsatz mit den Sluter und van Eyck,
das moderne Prinzip nur fragmentarische und stockende Fort-
schritte und am Ende des 15. Jahrhunderts waren Norden und
Süden weiter auseinander, als sie es am Anfang desselben gewesen
waren. Der Norden fühlte sich zurückgeblieben, der Realismus
allein hatte nicht genügt, ihn künstlerisch frei zu machen, er
setzte schließlich neue Hoffnungen auf die »antikischen Art«.

Ich fasse zusammen: Die Bezeichnung Renaissance in dem
bisher üblichen Umfange ist unentbehrlich. Ein daneben aufkom-
mender zweiter Renaissancebegriff mit erweitertem Geltungs-
bereich wäre nichts als ein Spiel mit Worten, und ein durch seine
Zweideutigkeit verhängnisvolles. Wir sprechen ja von Renaissance

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[54/0068] Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik ebenso einseitig, wie früher ihre Überschätzung. Es ist wahr: unmittelbare Entlehnungen kommen nur in den tektonischen Kün- sten vor; Malerei und Plastik sind davon beinahe frei. Aber ist denn damit schon alles gesagt? Gibt es nicht auch freiere, indirekte und imponderable Einflüsse? Wo Maler und Bildhauer in innigem Einvernehmen, ja oft in Personalunion mit der Architektur ihre Werke schufen, wie könnten sie von dem antiken Geiste unberührt geblieben sein? Und dann der ganze Untergrund erblicher Stammes- eigenschaften, welche die Italiener der Renaissance zu einem noch halbantiken Volke, nach Jakob Burckhardts Ausdruck, machten. Darum war eine Renaissance im eigentlichen organischen Sinne, als eine aus den tiefsten Wurzeln der Nation kommende Bewegung, nur in Italien möglich. Was man sonst mit dem unbestimmten Ausdruck »reinere Schönheit« der italienischen Renaissance als Vorzug vor der nordischen zugesteht, ist eben diese noch un- verbrauchte Erb- und Stammesanlage. Dagegen war im Norden der durch das ganze Mittelalter hindurchgegangene Strom antiker Rezeption eben beim Eintritt in das 15. Jahrhundert bis auf den letzten Tropfen aufgebraucht und vertrocknet. In keinem Jahr- hundert, von Karl dem Großen bis auf Wilhelm I., ist die deutsche Kunst von der antiken durch einen so weiten Abstand getrennt gewesen wie in diesem. Das ist sicher mit ein Grund, weshalb der italienischen Kunst die Überwindung des Mittelalters so viel leichter und folgerichtiger gelang als der nordischen. In dieser machte, nach kräftigstem Einsatz mit den Sluter und van Eyck, das moderne Prinzip nur fragmentarische und stockende Fort- schritte und am Ende des 15. Jahrhunderts waren Norden und Süden weiter auseinander, als sie es am Anfang desselben gewesen waren. Der Norden fühlte sich zurückgeblieben, der Realismus allein hatte nicht genügt, ihn künstlerisch frei zu machen, er setzte schließlich neue Hoffnungen auf die »antikischen Art«. Ich fasse zusammen: Die Bezeichnung Renaissance in dem bisher üblichen Umfange ist unentbehrlich. Ein daneben aufkom- mender zweiter Renaissancebegriff mit erweitertem Geltungs- bereich wäre nichts als ein Spiel mit Worten, und ein durch seine Zweideutigkeit verhängnisvolles. Wir sprechen ja von Renaissance

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/68>, abgerufen am 23.11.2024.