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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
und kräftigste Entfaltung fand. Also: nicht jeder Raumstil ist
Renaissance und Renaissance ist nicht Raumstil allein -- gerade
so wie sie im Bereiche der Bildkünste nicht Realismus allein ist.
Wäre die nordische Spätgotik wirklich Raumstil, so würde sie
immer nicht mehr sein als eine partielle Vorstufe zur Renaissance
und würde damit in gleiche Linie mit der italienischen Gotik
rücken, nicht weiter. Denn noch ist es nicht Brauch, Gebäude
wie den Dom von Florenz oder S. Petronio in Bologna nach ihrer
stilischen Totalität zur Renaissance zu rechnen, obschon viel
latente Renaissance in ihnen ist.

Nun aber die Hauptsache: ist die nordische Spätgotik
wirklich Raumstil im spezifischen Sinne? Um sie als solchen
charakterisieren zu dürfen, müßten wir an ihr folgendes nach-
weisen können: 1. daß das Interesse an der schönen Raumgestal-
tung über die anderen baukünstlerischen Interessen dominierte;
2. daß es ein bewußteres, helleres war als auf den früheren Stufen
der Gotik; 3. daß es in folgerichtiger Klärung, Befreiung und
Steigerung in die Renaissance als ihren Höhepunkt hinüberführte.

Keine einzige dieser Bedingungen trifft in Wirklichkeit zu.
Selbst das Schlußglied der postulierten Entwicklung, die deutsche
und niederländische Renaissancearchitektur des 16. Jahrhunderts,
war alles eher als Raumstil; sie war in keinem Punkte von der
primären, d. h. italienischen Renaissance so weit entfernt als in
diesem. Schmarsow läßt somit in der Spätgotik sich etwas
vorbereiten, was nie eingetreten ist. Aber auch nach rückwärts
verglichen kann ich nicht zugeben, daß die Spätgotik raum-
künstlerisch über die Hochgotik hinausgegangen wäre. Es liegt hier
eine leicht aufzulösende Täuschung vor. Schmarsow hat als Hebung
des Sinnes für Raumschönheit angesehen, was lediglich ein Sinken
des Sinnes für organische Schönheit war. Das ist, wie mich dünkt,
ohne weiteres klar, wenn man die von Schmarsow, als Hauptver-
treter dessen, was ihm deutsche Frührenaissance ist, aufgeführten
Denkmäler genannt hört. Eröffnet wird die Reihe durch die
Kreuzkirche in Schwäbisch-Gmünd (erbaut seit ca. 1330); es folgen
die Kirchen S. Georg in Nördlingen, S. Georg in Dinkelsbühl,
die Frauenkirche in München, die Martinikirche in Landshut,

Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik
und kräftigste Entfaltung fand. Also: nicht jeder Raumstil ist
Renaissance und Renaissance ist nicht Raumstil allein — gerade
so wie sie im Bereiche der Bildkünste nicht Realismus allein ist.
Wäre die nordische Spätgotik wirklich Raumstil, so würde sie
immer nicht mehr sein als eine partielle Vorstufe zur Renaissance
und würde damit in gleiche Linie mit der italienischen Gotik
rücken, nicht weiter. Denn noch ist es nicht Brauch, Gebäude
wie den Dom von Florenz oder S. Petronio in Bologna nach ihrer
stilischen Totalität zur Renaissance zu rechnen, obschon viel
latente Renaissance in ihnen ist.

Nun aber die Hauptsache: ist die nordische Spätgotik
wirklich Raumstil im spezifischen Sinne? Um sie als solchen
charakterisieren zu dürfen, müßten wir an ihr folgendes nach-
weisen können: 1. daß das Interesse an der schönen Raumgestal-
tung über die anderen baukünstlerischen Interessen dominierte;
2. daß es ein bewußteres, helleres war als auf den früheren Stufen
der Gotik; 3. daß es in folgerichtiger Klärung, Befreiung und
Steigerung in die Renaissance als ihren Höhepunkt hinüberführte.

Keine einzige dieser Bedingungen trifft in Wirklichkeit zu.
Selbst das Schlußglied der postulierten Entwicklung, die deutsche
und niederländische Renaissancearchitektur des 16. Jahrhunderts,
war alles eher als Raumstil; sie war in keinem Punkte von der
primären, d. h. italienischen Renaissance so weit entfernt als in
diesem. Schmarsow läßt somit in der Spätgotik sich etwas
vorbereiten, was nie eingetreten ist. Aber auch nach rückwärts
verglichen kann ich nicht zugeben, daß die Spätgotik raum-
künstlerisch über die Hochgotik hinausgegangen wäre. Es liegt hier
eine leicht aufzulösende Täuschung vor. Schmarsow hat als Hebung
des Sinnes für Raumschönheit angesehen, was lediglich ein Sinken
des Sinnes für organische Schönheit war. Das ist, wie mich dünkt,
ohne weiteres klar, wenn man die von Schmarsow, als Hauptver-
treter dessen, was ihm deutsche Frührenaissance ist, aufgeführten
Denkmäler genannt hört. Eröffnet wird die Reihe durch die
Kreuzkirche in Schwäbisch-Gmünd (erbaut seit ca. 1330); es folgen
die Kirchen S. Georg in Nördlingen, S. Georg in Dinkelsbühl,
die Frauenkirche in München, die Martinikirche in Landshut,

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[56/0070] Über die Grenze der Renaissance gegen die Gotik und kräftigste Entfaltung fand. Also: nicht jeder Raumstil ist Renaissance und Renaissance ist nicht Raumstil allein — gerade so wie sie im Bereiche der Bildkünste nicht Realismus allein ist. Wäre die nordische Spätgotik wirklich Raumstil, so würde sie immer nicht mehr sein als eine partielle Vorstufe zur Renaissance und würde damit in gleiche Linie mit der italienischen Gotik rücken, nicht weiter. Denn noch ist es nicht Brauch, Gebäude wie den Dom von Florenz oder S. Petronio in Bologna nach ihrer stilischen Totalität zur Renaissance zu rechnen, obschon viel latente Renaissance in ihnen ist. Nun aber die Hauptsache: ist die nordische Spätgotik wirklich Raumstil im spezifischen Sinne? Um sie als solchen charakterisieren zu dürfen, müßten wir an ihr folgendes nach- weisen können: 1. daß das Interesse an der schönen Raumgestal- tung über die anderen baukünstlerischen Interessen dominierte; 2. daß es ein bewußteres, helleres war als auf den früheren Stufen der Gotik; 3. daß es in folgerichtiger Klärung, Befreiung und Steigerung in die Renaissance als ihren Höhepunkt hinüberführte. Keine einzige dieser Bedingungen trifft in Wirklichkeit zu. Selbst das Schlußglied der postulierten Entwicklung, die deutsche und niederländische Renaissancearchitektur des 16. Jahrhunderts, war alles eher als Raumstil; sie war in keinem Punkte von der primären, d. h. italienischen Renaissance so weit entfernt als in diesem. Schmarsow läßt somit in der Spätgotik sich etwas vorbereiten, was nie eingetreten ist. Aber auch nach rückwärts verglichen kann ich nicht zugeben, daß die Spätgotik raum- künstlerisch über die Hochgotik hinausgegangen wäre. Es liegt hier eine leicht aufzulösende Täuschung vor. Schmarsow hat als Hebung des Sinnes für Raumschönheit angesehen, was lediglich ein Sinken des Sinnes für organische Schönheit war. Das ist, wie mich dünkt, ohne weiteres klar, wenn man die von Schmarsow, als Hauptver- treter dessen, was ihm deutsche Frührenaissance ist, aufgeführten Denkmäler genannt hört. Eröffnet wird die Reihe durch die Kreuzkirche in Schwäbisch-Gmünd (erbaut seit ca. 1330); es folgen die Kirchen S. Georg in Nördlingen, S. Georg in Dinkelsbühl, die Frauenkirche in München, die Martinikirche in Landshut,

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/70>, abgerufen am 23.11.2024.