Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte als in erster Linie stehend bezeichnet, darf nicht vergessen machen,daß es noch ein zweites, höheres Niveau der Betrachtung gibt, auf dem die Einzelkunst nur als Ausfluß eines einheitlichen künst- lerischen Gesamtbewußtseins, und dieses wiederum nur beschlossen in dem geistig-materiellen Gesamtzustande der jeweiligen Epoche erscheint." Seitdem ist eine Geschichte der deutschen Kunst nicht wieder geschrieben worden. Das ist sicher: die, die uns not tut, kann nicht durch Assoziation entstehen. Sie wird das Werk eines Einzelnen sein müssen. In einer jeden Wissenschaft gibt es Entwicklungsepochen, Die in Rede stehende Lücke macht sich noch auffallender Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte als in erster Linie stehend bezeichnet, darf nicht vergessen machen,daß es noch ein zweites, höheres Niveau der Betrachtung gibt, auf dem die Einzelkunst nur als Ausfluß eines einheitlichen künst- lerischen Gesamtbewußtseins, und dieses wiederum nur beschlossen in dem geistig-materiellen Gesamtzustande der jeweiligen Epoche erscheint.« Seitdem ist eine Geschichte der deutschen Kunst nicht wieder geschrieben worden. Das ist sicher: die, die uns not tut, kann nicht durch Assoziation entstehen. Sie wird das Werk eines Einzelnen sein müssen. In einer jeden Wissenschaft gibt es Entwicklungsepochen, Die in Rede stehende Lücke macht sich noch auffallender <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0078" n="64"/><fw place="top" type="header">Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte</fw><lb/> als in erster Linie stehend bezeichnet, darf nicht vergessen machen,<lb/> daß es noch ein zweites, höheres Niveau der Betrachtung gibt,<lb/> auf dem die Einzelkunst nur als Ausfluß eines einheitlichen künst-<lb/> lerischen Gesamtbewußtseins, und dieses wiederum nur beschlossen<lb/> in dem geistig-materiellen Gesamtzustande der jeweiligen Epoche<lb/> erscheint.« Seitdem ist eine Geschichte der deutschen Kunst nicht<lb/> wieder geschrieben worden. Das ist sicher: die, die uns not tut,<lb/> kann nicht durch Assoziation entstehen. Sie wird das Werk eines<lb/> Einzelnen sein müssen.</p><lb/> <p>In einer jeden Wissenschaft gibt es Entwicklungsepochen,<lb/> in denen die analytische Arbeit das Übergewicht über die syn-<lb/> thetische hat, unvermeidlich. Kein Glück ist es aber, wenn sich eine<lb/> solche Epoche zu sehr in die Länge zieht, was nachgerade der Fall<lb/> geworden ist. Nun wird man von der deutschen Kunstwissenschaft<lb/> der Gegenwart ohne Ungerechtigkeit nicht behaupten können,<lb/> daß sie synthetischer Betrachtung überhaupt abhold sei. Nur<lb/> die Kunst des eigenen Volkes ist es, die bis jetzt in dieser Hin-<lb/> sicht leer ausging. Warum das? Ein bloßer Zufall ist es nicht;<lb/> Ursachen müssen da sein, aber wahrscheinlich sind sie sehr kom-<lb/> plizierter Natur.</p><lb/> <p>Die in Rede stehende Lücke macht sich noch auffallender<lb/> geltend, wenn wir auf den nächstliegenden Parallelzweig der<lb/> historischen Literatur, die Geschichte der deutschen Dichtkunst,<lb/> hinsehen, wo es Darstellungen jeder Art und jeden Umfanges seit<lb/> langem und in Fülle gibt, vom schweren gelehrten Kompendium<lb/> bis zur populären Übersicht in mannigfachster Abstufung. Sollte<lb/> etwa im Publikum das Interesse an der bildenden Kunst im glei-<lb/> chen Maßstabe kleiner sein? Diese Folgerung wäre irrig. Wie man<lb/> immer das Gewicht des ästhetischen Faktors im Gesamtleben<lb/> unserer Zeit abschätzen mag, — zum mindesten die äußere Be-<lb/> kanntschaft mit Werken der Kunst, alter wie neuer, geht in der<lb/> heute lebenden Generation in die Breite wie nie. Es ist die moderne<lb/> Technik, die auch nach dieser Seite hin für unsere Kultur ganz neue<lb/> Bedingungen hervorgerufen hat. Eisenbahnen und Photographie<lb/> haben den angesammelten Schatz alter Kunst aus seiner ört-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [64/0078]
Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte
als in erster Linie stehend bezeichnet, darf nicht vergessen machen,
daß es noch ein zweites, höheres Niveau der Betrachtung gibt,
auf dem die Einzelkunst nur als Ausfluß eines einheitlichen künst-
lerischen Gesamtbewußtseins, und dieses wiederum nur beschlossen
in dem geistig-materiellen Gesamtzustande der jeweiligen Epoche
erscheint.« Seitdem ist eine Geschichte der deutschen Kunst nicht
wieder geschrieben worden. Das ist sicher: die, die uns not tut,
kann nicht durch Assoziation entstehen. Sie wird das Werk eines
Einzelnen sein müssen.
In einer jeden Wissenschaft gibt es Entwicklungsepochen,
in denen die analytische Arbeit das Übergewicht über die syn-
thetische hat, unvermeidlich. Kein Glück ist es aber, wenn sich eine
solche Epoche zu sehr in die Länge zieht, was nachgerade der Fall
geworden ist. Nun wird man von der deutschen Kunstwissenschaft
der Gegenwart ohne Ungerechtigkeit nicht behaupten können,
daß sie synthetischer Betrachtung überhaupt abhold sei. Nur
die Kunst des eigenen Volkes ist es, die bis jetzt in dieser Hin-
sicht leer ausging. Warum das? Ein bloßer Zufall ist es nicht;
Ursachen müssen da sein, aber wahrscheinlich sind sie sehr kom-
plizierter Natur.
Die in Rede stehende Lücke macht sich noch auffallender
geltend, wenn wir auf den nächstliegenden Parallelzweig der
historischen Literatur, die Geschichte der deutschen Dichtkunst,
hinsehen, wo es Darstellungen jeder Art und jeden Umfanges seit
langem und in Fülle gibt, vom schweren gelehrten Kompendium
bis zur populären Übersicht in mannigfachster Abstufung. Sollte
etwa im Publikum das Interesse an der bildenden Kunst im glei-
chen Maßstabe kleiner sein? Diese Folgerung wäre irrig. Wie man
immer das Gewicht des ästhetischen Faktors im Gesamtleben
unserer Zeit abschätzen mag, — zum mindesten die äußere Be-
kanntschaft mit Werken der Kunst, alter wie neuer, geht in der
heute lebenden Generation in die Breite wie nie. Es ist die moderne
Technik, die auch nach dieser Seite hin für unsere Kultur ganz neue
Bedingungen hervorgerufen hat. Eisenbahnen und Photographie
haben den angesammelten Schatz alter Kunst aus seiner ört-
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