Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte Gattung der Schnitzaltäre, deren jede Dorfkirche drei besaßund die Stadtkirchen oft 30 oder 40, und berechne die daraus sich ergebenden Zahlen; man denke weiter an die nicht leicht einer Kirche fehlende Ölbergs- oder Kreuzigungsgruppe; endlich an die unermeßliche Summe sepulkralen Bildwerks: -- das gibt schon in der einen, der plastischen Kunst die Vorstellung von einer Massenproduktion, gegen die die gleichzeitige Leistung der ita- lienischen Renaissance (wobei natürlich nur nach der Seite der Quantität der Vergleich gezogen wird) ärmlich erscheint. Dies alles war noch öffentliche Kunst. Zu ihr addiere man die neue, ebenfalls auf Massenproduktion gerichtete Kunst fürs Haus, den Kupferstich und Holzschnitt. Technisch lange schon vorbereitet, hat doch erst der demokratische Drang dieses Zeitalters sie ins Leben gerufen. Unsere besten Künstler haben ihre besten Ge- danken diesem unscheinbaren Vehikel anvertraut, wohl wissend, was sie damit gewannen, eine Publizität, gegen welche die von der Wandmalerei des Mittelalters gewährte eine ganz enge war. Es will doch viel sagen, daß diese Nation, welche in ihrer Jugend von Kunst nichts gewußt hatte, welche sie erst von Fremden hatte erlernen müssen, jetzt am Vorabend größter innerer Ent- scheidungen auf sie als Ausdrucksmittel ihrer Herzensregungen so volles Vertrauen setzte. Denn das ist klar: bei diesem all- verbreiteten Hunger nach Kunst handelt es sich nicht um die Kunst allein. Wieder, doch in einem sehr anderen Sinne als in den An- fängen, ist es die Religion, die mit der eindringlichen Stimme der Kunst sprechen will. Kein Historiker kann den Seelenzustand des deutschen Volkes am Vorabend der Reformation kennen, er hätte denn die Bilderwelt dieser Zeit aufs gründlichste sich zu eigen gemacht. Und ebenso wird kein Kunsthistoriker glauben dürfen, sein Gegenstand sei hier mit Forschungen über Schul- zusammenhänge und Stilprobleme erschöpft. -- Dann kam im 16. Jahrhundert, nach kurzer Blüte, die Katastrophe. Die deutsche Kunst hat sich von ihr nie wieder ganz erholt. Der ersten Berührung mit der Antike, in der Karolingerzeit, hatte sie ihr ganzes Dasein zu verdanken gehabt; die zweite, in der Re- naissance, wurde ihr Verderben. Die Deutschen des 16. Jahr- Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte Gattung der Schnitzaltäre, deren jede Dorfkirche drei besaßund die Stadtkirchen oft 30 oder 40, und berechne die daraus sich ergebenden Zahlen; man denke weiter an die nicht leicht einer Kirche fehlende Ölbergs- oder Kreuzigungsgruppe; endlich an die unermeßliche Summe sepulkralen Bildwerks: — das gibt schon in der einen, der plastischen Kunst die Vorstellung von einer Massenproduktion, gegen die die gleichzeitige Leistung der ita- lienischen Renaissance (wobei natürlich nur nach der Seite der Quantität der Vergleich gezogen wird) ärmlich erscheint. Dies alles war noch öffentliche Kunst. Zu ihr addiere man die neue, ebenfalls auf Massenproduktion gerichtete Kunst fürs Haus, den Kupferstich und Holzschnitt. Technisch lange schon vorbereitet, hat doch erst der demokratische Drang dieses Zeitalters sie ins Leben gerufen. Unsere besten Künstler haben ihre besten Ge- danken diesem unscheinbaren Vehikel anvertraut, wohl wissend, was sie damit gewannen, eine Publizität, gegen welche die von der Wandmalerei des Mittelalters gewährte eine ganz enge war. Es will doch viel sagen, daß diese Nation, welche in ihrer Jugend von Kunst nichts gewußt hatte, welche sie erst von Fremden hatte erlernen müssen, jetzt am Vorabend größter innerer Ent- scheidungen auf sie als Ausdrucksmittel ihrer Herzensregungen so volles Vertrauen setzte. Denn das ist klar: bei diesem all- verbreiteten Hunger nach Kunst handelt es sich nicht um die Kunst allein. Wieder, doch in einem sehr anderen Sinne als in den An- fängen, ist es die Religion, die mit der eindringlichen Stimme der Kunst sprechen will. Kein Historiker kann den Seelenzustand des deutschen Volkes am Vorabend der Reformation kennen, er hätte denn die Bilderwelt dieser Zeit aufs gründlichste sich zu eigen gemacht. Und ebenso wird kein Kunsthistoriker glauben dürfen, sein Gegenstand sei hier mit Forschungen über Schul- zusammenhänge und Stilprobleme erschöpft. — Dann kam im 16. Jahrhundert, nach kurzer Blüte, die Katastrophe. Die deutsche Kunst hat sich von ihr nie wieder ganz erholt. Der ersten Berührung mit der Antike, in der Karolingerzeit, hatte sie ihr ganzes Dasein zu verdanken gehabt; die zweite, in der Re- naissance, wurde ihr Verderben. Die Deutschen des 16. 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Deutsche Kunstgeschichte und Deutsche Geschichte
Gattung der Schnitzaltäre, deren jede Dorfkirche drei besaß
und die Stadtkirchen oft 30 oder 40, und berechne die daraus sich
ergebenden Zahlen; man denke weiter an die nicht leicht einer
Kirche fehlende Ölbergs- oder Kreuzigungsgruppe; endlich an die
unermeßliche Summe sepulkralen Bildwerks: — das gibt schon
in der einen, der plastischen Kunst die Vorstellung von einer
Massenproduktion, gegen die die gleichzeitige Leistung der ita-
lienischen Renaissance (wobei natürlich nur nach der Seite der
Quantität der Vergleich gezogen wird) ärmlich erscheint. Dies
alles war noch öffentliche Kunst. Zu ihr addiere man die neue,
ebenfalls auf Massenproduktion gerichtete Kunst fürs Haus, den
Kupferstich und Holzschnitt. Technisch lange schon vorbereitet,
hat doch erst der demokratische Drang dieses Zeitalters sie ins
Leben gerufen. Unsere besten Künstler haben ihre besten Ge-
danken diesem unscheinbaren Vehikel anvertraut, wohl wissend,
was sie damit gewannen, eine Publizität, gegen welche die von der
Wandmalerei des Mittelalters gewährte eine ganz enge war. Es
will doch viel sagen, daß diese Nation, welche in ihrer Jugend
von Kunst nichts gewußt hatte, welche sie erst von Fremden
hatte erlernen müssen, jetzt am Vorabend größter innerer Ent-
scheidungen auf sie als Ausdrucksmittel ihrer Herzensregungen
so volles Vertrauen setzte. Denn das ist klar: bei diesem all-
verbreiteten Hunger nach Kunst handelt es sich nicht um die Kunst
allein. Wieder, doch in einem sehr anderen Sinne als in den An-
fängen, ist es die Religion, die mit der eindringlichen Stimme der
Kunst sprechen will. Kein Historiker kann den Seelenzustand
des deutschen Volkes am Vorabend der Reformation kennen, er
hätte denn die Bilderwelt dieser Zeit aufs gründlichste sich zu
eigen gemacht. Und ebenso wird kein Kunsthistoriker glauben
dürfen, sein Gegenstand sei hier mit Forschungen über Schul-
zusammenhänge und Stilprobleme erschöpft. — Dann kam im
16. Jahrhundert, nach kurzer Blüte, die Katastrophe. Die deutsche
Kunst hat sich von ihr nie wieder ganz erholt. Der ersten
Berührung mit der Antike, in der Karolingerzeit, hatte sie ihr
ganzes Dasein zu verdanken gehabt; die zweite, in der Re-
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